Feuerwasser
produzierten. Dann griff er zu den Aufnahmen, die er auf seiner letzten Wanderung mit Mikrofon und Minidisc registriert hatte.
Der Kies knirschte unter den regelmäßigen Tritten, harte Zähne knabberten an der Schale der Erde, der Atem ging stoßweise, fast zwei Schritte pro Sekunde, ein regelmäßiges Schuffeln von scheuernden Hosenbeinen. Im Hintergrund der fast schon diabolische Rhythmus schabender Kieselsteine, unverhofft das Zwitschern naher Vögel im Wald, ein Tschilpen und Tirilieren, dann wieder das Mahlen der Schuhsohlen, der unerbittlich vorwärts drängenden Füße, das Summen und Brummen eines Insekts, ein ferner Kuckuck. Später saugten sich die Sohlen im tiefen Moorboden fest, entfernten sich mit einem leisen Ploppen und setzten auf dem morschen Holz eines Stegs auf, neben dem noch letzter Schnee lag.
Natürlich waren seine Aufzeichnungen Flickwerk, wenn er an die Möglichkeiten dachte, die den Wissenschaften zur Verfügung standen. Ganz besonders elektrisierte ihn eine Zeitungsmeldung, die besagte, man habe das Brummen der Erde aufgenommen, unterhalb der Hörgrenze zwar, aber durch beschleunigtes Abspielen der Geräusche auch für menschliche Ohren vernehmbar. Es handle sich sozusagen um die Melodie des Planeten. Heinrich Müller hätte sie zu gerne gehört.
Es gibt Tage im Leben, da möchte man alles anders gemacht haben. Aber dann weiß man nicht, wie. Denn man kann ja weder aus seiner Haut noch aus seinem Denken raus. Ein knappes Maunzen riss den Detektiv aus seinen Überlegungen.
Baron Biber hatte das Katzenalter erreicht, in dem es Spezialfutter für Senioren gab. »Für rüstige Entdecker« stand auf der Packung, typisch deutsches Arbeitsethos. Da hatten es die englischen Kater besser, sie durften ›playful oldies‹ sein. Und die französischen Bohémiens ließen sich als ›seniors jeunes d’esprit‹ bedienen und verfolgten mit halb geschlossenen, scheinbar desinteressierten Lidern sehnsüchtig junge Katzendamen. Schmetterlingen hinterherspringen, wie es die Packung suggerierte, kam für Baron Biber allerdings nicht infrage, schon weil es kaum noch welche gab.
Es müsste solche Spezialnahrung auch für rüstige menschliche Senioren geben , dachte Müller. Zwar waren seine Anstrengungen zur Gewichtsreduktion von Erfolg gekrönt. Die Gramme purzelten nur so dahin. Leider nicht genug, dass es auf der Waage sichtbar geworden wäre.
Der Detektiv nahm sich noch einmal die Unterlagen vor, die er von Alice Grünig, von den EKW und von der Homepage der Aktionsgruppe gesammelt hatte. Fakt war die nicht öffentliche Planung eines Pumpspeicherstauwerks im Justistal, über das mit den lokalen Behörden verhandelt wurde, für das Spezialisten der Betreibergesellschaft die notwendigen Abklärungen trafen. Die Aktionsgruppe hingegen war der Überzeugung, dass die damit zusammenhängenden Gefahren nicht objektiv beurteilt wurden und über die Landschaftszerstörung hinaus eine ganze Region bedrohten. Bei einem allfälligen Dammbruch würde die entstehende Flutwelle das gesamte Aaretal und die Hauptstadt Bern vernichten, zumindest ihre flussnahen Teile. Alles sehr diffus und für Müller kaum zu beurteilen. Möglicherweise aber entzündete sich genau daran der Konflikt, der zum Tod von Kurt Grünig geführt hatte.
Der Detektiv suchte Vergleichsgrößen für die Angaben, die ihm Daniel Abegg von den EKW gemacht hatte. Eine Staumauer von 500 Metern Höhe wäre fast doppelt so groß wie die nächst höhere von Grande Dixence, die 285 Meter aufwies. Sie war allerdings als Gewichtsmauer gebaut worden, hielt also dem Wasserdruck durch ihre halbierte Pyramidenform stand. Im Justistal wäre dieser Bautyp schon aus Platzgründen unmöglich. Da müsste man eine Bogenmauer in den Felsausläufern der beiden Bergketten verankern. Müller zweifelte an der technischen Machbarkeit. Die halbe Höhe wäre bestimmt kein Problem gewesen. Dann hätte man die Mauer jedoch weit ins Tal zurücksetzen müssen, was den Inhalt des Stausees auf 450 Millionen Kubikmeter reduziert hätte. Immer noch derjenige mit der größten Füllmenge. Mit dem totalen Volumen von 1.500 Millionen Kubikmetern wäre er mit Abstand der größte Stausee der Schweiz geworden, mehr als zehn Mal so groß wie der Grimselsee, der Stolz der KWO Kraftwerke Oberhasli . Aber nicht einmal unter den 150 größten der Welt. Mit einer Oberfläche von etwa drei Quadratkilometern hätte er allerdings zu den flächenmäßig größten Stauseen im Gebirge gehört,
Weitere Kostenlose Bücher