Feuerwasser
Metern, es reicht also bis auf den Spiegel des Thunersees hinunter. Heute aber kamen die Geister der Erde, um Sara Reber abzuholen. Denn sie hatte etwas verloren, das wertvoller war als alle Edelsteine der Welt: ihr Leben!
Die kleinen Leute hatten ihre Arbeit längst getan, als der Hund eines Wanderers, der mit seiner Familie zum Mittleren Seefeld unterwegs war, anschlug und nicht mehr weitergehen wollte. Eines der Kinder zeigte auf eine Wolke von Schmetterlingen, die auf etwas nicht genau Erkennbarem lag. Der Vater ließ die Familie bei den Holzplanken zurück, die über den Rand eines Teichs führten, der sich auf dem Moor gebildet hatte.
Der Hohgant-Sandstein, das vorzeitliche Meeresufer, dichtete gegen den unterirdischen Wasserabfluss durch den Schrattenkalk ab. So wurden zwar die Füße des Berggängers nass, er hatte jedoch einen sicheren Tritt. Allerdings wurden seine Knie weich, als die Sommervögel, es waren hauptsächlich Zitronenfalter, bei seinem Näherkommen aufstoben. Der Mann sah nur rückenlange, rötlich gefärbte braune Haare und rannte zu seiner Familie zurück. Es brauchte viel Überzeugungskraft, um die Kinder davon abzuhalten, »mit den Schmetterlingen zu spielen«.
Papa nutzte derweilen die Segnungen der Technik und informierte mit seinem Handy den Gemeindepräsidenten von Habkern, seinen Cousin, der im nahen Beatenberg wohnte, den im gleichen Dorf ansässigen Spezialisten für Archäoastronautik, Erich von Däniken, den er allerdings nicht erreichte, den Wirt des Restaurants »Berghaus Niederhorn« sowie den Trainer der Fußballjunioren des FC Interlaken, bevor er mit inzwischen fröhlichem Gesicht sein Handy zuklappte.
»Hast du die Polizei benachrichtigt?«, fragte seine Frau trocken.
So waren die Katastrophenwanderer auf den Plan gerufen, bevor die Police Bern von der Sache Kenntnis erhielt. Zu Dutzenden machten sie sich auf den Weg, denn nach dem Leichenfund im Schafloch, den sie bereits verpasst hatten, hielt sie nichts mehr zurück.
Diese Art des Sensationstourismus begann 1957, als in einem Bergdrama in der Eigernordwand der italienische Alpinist Stefano Longhi nicht geborgen werden konnte und zwei Jahre lang in seinem Seil hin- und herbaumelte. Die Hotelterrassen auf der Kleinen Scheidegg brauchten sich über mangelnde Nachfrage nach den Münz-Fernrohren nicht zu beklagen. 1 Noch im letzten Sommer waren die Katastrophenjäger wieder nach Grindelwald gepilgert, um dem Absturz einer Felsnase im gegenüberliegenden Berggasthaus ›Bäregg‹ möglichst nahe zu sein.
Und nun diese Gelegenheit! Diejenigen, die sich sonst als Bewahrer der Moorlandschaft Habkern-Sörenberg in Szene setzten, safteten durch die nassen Wiesen des Flachmoors und zerstörten unwiederbringlich das, was sie zu schützen vorgaben. Heute wollte jeder der Erste am Unglücksort sein, zertretenes Gras hin oder her. Keinen Blick für die natürlichen Dolmengräber, keinen für die geheimnisvollen Felsgesichter, für den feinen weißen Quarzsand, den man eher am Meeresstrand vermuten würde, wäre er nicht auf 1.600 Metern als Abdichtung auf dem Kalk gelegen.
Keine Überlegung, ob die Näpfchen und Risse in den Steinen natürlichen Ursprungs oder ob sie von Menschen der Vorzeit geschaffen worden waren, die von ihrem Kultplatz aus das Panorama der Berner Alpen bewundert hatten, auch wenn die Berge damals andere Namen getragen hatten. Eiger, Mönch und Jungfrau. Blüemlisalp. Wetterhorn. Schreckhorn. Moos hatte inzwischen kaum noch sichtbare Rillen in charakterstarken Steinen bewachsen und machte die prähistorischen Tiere sichtbar: Pferd, Stier, Büffel. Aber der Blick der Sensationswanderer ging stur geradeaus.
Leider war die Position des Fundorts trotz stetiger Rückfragen per Handy nicht ganz klar, nur vage Angaben über die Route vom Trogenmoos zum Mittleren Seefeld waren verfügbar. Oder hatte die Familie den Weg Richtung Grünenbergpass genommen, denn da hatte es doch eine Abzweigung gegeben, an der man eine Münze aufgeworfen hatte, um über rechts oder links zu entscheiden. Es ging bereits über die Mittagszeit hinaus, die Kinder quengelten, sie hatten Hunger, aber Mama wollte in der Nähe einer Frauenleiche nichts essen, in dieser Sache blieb sie hart.
Endlich erreichte sie der Juniorentrainer, der mit seinem Auto bis zum Grünenbergpass hochgefahren war, dabei gleich den Vierradantrieb testen konnte, und von dort leichtes Spiel hatte, weil es keinen Aufstieg mehr zu bewältigen gab. Der Plan war, dass
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