Fey 02: Das Schattenportal
nehmen. Ihr Vater betrachtete sie aufmerksam.
»Gut«, sagte er. »Sag mir, was du davon hältst.«
»Daß du ein Narr bist.« Die Worte drängten beinahe unaufgefordert aus ihr heraus. Erst jetzt bemerkte sie, wie wütend sie war. »Du hättest ihrem Treffen nicht zustimmen, sondern selbst eine Zusammenkunft arrangieren sollen. Und dann auch noch mit ihrem Kirchenoberhaupt? Was kann dieser Mann schon tun – außer dich töten? Du solltest dich mit ihrem König treffen!«
»Ihr König kann mir nicht helfen.« Rugar lehnte sich an den Kamin. Das Feuer vom Morgen war zu kalter Asche zusammengefallen.
»Aber dieser Kirchenfürst ist dazu in der Lage?« Jewel warf ihren Zopf über die Schulter und blickte ihrem Vater ins Gesicht. Er grinste sie an, was sie nur noch wütender machte.
»Er ist der Bewahrer der Geheimnisse. Wir werden mehr über ihre Magie erfahren.«
»Wenn sie uns nicht vorher alle umbringen. Das ist eine Falle, Papa. Schicke jemanden hinter dem Jungen her und triff andere Vereinbarungen.«
Rugar schüttelte den Kopf. Winzige Lachfältchen umspannen seine Augen. »Jewel«, sagte er leise, »sobald wir ihre Geheimnisse kennen, werden wir diesen Krieg gewinnen.«
»Ich weigere mich zu glauben, daß er ein Treffen veranstaltet, bei dem er dir seine Geheimnisse verraten und dir damit einen Vorteil verschaffen will.« Sie erhob sich ebenfalls, damit sie ihm direkt in die Augen blicken konnte. Sie war so groß wie er, was ihr ein Gefühl von Macht verlieh. »Wahrscheinlich hat er vor, dich zu töten, und wenn ein Inselbewohner dazu in der Lage ist, dann er.«
»Er wird mich nicht töten. Er erlaubt mir sogar, Waffen mitzubringen.«
Jewel schluckte ihren Zorn. Sie hatte ihn noch nie von seiner sturen Seite kennengelernt, obwohl sie ihren Großvater davon hatte reden hören. Es war die Seite, die sie alle überhaupt erst auf die Blaue Insel gebracht hatte. »Wenn du mit Waffen kommst, kommt er ebenfalls mit Waffen. Er macht einen nach dem anderen von euch nieder, und was haben wir damit gewonnen?«
»Dann übernimmst du den Oberbefehl hier.«
»Und unsere Leute werden nach Nye zurückkehren wollen. Sie werden nicht auf mich hören. Für viele von denen bin ich immer noch ein junges Mädchen. Sie wissen nicht einmal, daß ich bereits über meine Vision verfüge.«
Er hob eine Augenbraue. Sie haßte diesen anmaßenden Blick. »Und wessen Schuld ist das?«
»Eine Vision macht noch keine Visionärin«, sagte sie. Dann stützte sie die Handflächen auf die Stuhllehne und beugte sich zu ihm. »Was sagt denn deine Vision zu diesem Treffen?«
Ihm stieg das Blut in die Wangen, aber er hielt den Blick fest auf sie gerichtet. »Ich hatte dazu keine Vision.«
»Na schön«, blaffte sie, bevor sie sich beherrschen konnte, »wenigstens wissen wir, daß du dabei nicht sterben wirst.«
»Das ist ein Märchen«, sagte er. »Wenn Visionäre ihren eigenen Tod sehen, reden sie nicht darüber.«
»Ich weiß, daß es ein Märchen ist.« Sie schleuderte jedes Wort mit einer derartigen Vehemenz heraus, daß sie beim Sprechen spuckte. Sie widerstand dem Drang, die Hand vor den Mund zu halten. »Ich war sarkastisch, aber weiter drinnen verspüre ich Angst. Caseo behauptet, du habest deine Vision verloren. Stimmt das?«
Rugar sah sie lange an, ohne ein Wort zu sagen. Seine Wangen verfärbten sich noch mehr.
»Stimmt das?« fragte sie wieder.
»Nicht jedes Ereignis erfordert eine Vision.«
»Nein«, erwiderte sie. »Nur die wichtigen. Ich finde, eine Zusammenkunft zwischen den Fey und dem Anführer ihrer Feinde ist ein wichtiges Ereignis, insbesondere dann, wenn einer von euch oder gar beide dabei sterben können. Und du hast keine Vision dazu? Vielleicht sonstjemand? Hast du mit der Schamanin geredet?«
»Wenn sie etwas Schlimmes Gesehen hätte, hätte sie mich davon unterrichtet.«
»Wirklich? Weiß sie, daß es von ihr erwartet wird, oder geht sie davon aus, daß du es ebenfalls Gesehen hast?«
»Warum führst du dich so auf, Jewel?«
»Weil du dich so dumm anstellst. Und ich möchte nicht, daß du stirbst.« Bei dem letzten Wort hatte ihre Stimme ein wenig gebebt. Sein Tod würde sie am Boden zerstören und zugleich als seine Nachfolgerin bestimmen. Sie würde die gesamte Streitmacht auf der Blauen Insel weiterführen müssen.
»Nein, Jewel!« Rugar sprach jetzt mit der Befehlsstimme, die er immer angeschlagen hatte, wenn sie und ihre Brüder als Kinder ungezogen gewesen waren. Eine Stimme, die sie selbst
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