Fey 03: Der Thron der Seherin
geglaubt«, sagte Rugar. »Aber ich habe dich einfach nicht verstanden.«
»Ihr Tod hat mich fast umgebracht.«
»Ich weiß«, entgegnete Rugar. »Es tut mir leid. Deine Vision war sehr ungewöhnlich, Gabe. Wie kann ich dir das nur erklären?«
Gabes Gesicht verzog sich schmerzlich, und seine Unterlippe fing an zu zittern. »Sie hat mich geliebt«, flüsterte er.
Rugar hielt den Atem an. Niche preßte die Hand aufs Herz. »Sie hat mich geliebt. Sie hat nicht gewußt, daß ich hier bin, und sie hat mich geliebt.«
»Hast du sie Gesehen?« fragte Rugar.
Gabe nickte. »Sie kam, um das Band zu lösen. Aber sie hielt mich für jemand anderen.« Er hob den Blick zu Rugar. »Sie hat dich verflucht.«
Es kostete Rugar einige Mühe, ungerührt zu bleiben. Jewel hatte ihre letzte Energie dafür geopfert, das Leben ihres Sohnes zu retten. Sie hatte gewußt, daß das Band noch gelöst werden mußte, und hatte ihn über diese Verbindung gesucht, um ihn zu retten. Aber statt des Golems hatte sie Gabe gefunden.
Und begriffen, was Rugar getan hatte.
Wenn er doch nur die Gelegenheit gehabt hätte, es ihr zu erklären. Wenn er ihr doch nur hätte sagen können, daß er Gabe zum Wohle der Fey entführt hatte.
»Rugar?« fragte Niche.
Böse blickte er sie an, diese Irrlichtfängerin. Nur weil er sie für würdig befunden hatte, seinen Enkel großzuziehen, war sie deswegen noch lange nicht befugt, ihn einfach anzusprechen.
Sein Zorn mußte sich doch in seinem Gesicht gespiegelt haben. Gabe zog sich zu seiner Mutter zurück und sah zum ersten Mal, seit Rugar den Raum betreten hatte, wie ein Kind aus. »Ich verstehe es nicht«, sagte er, und obwohl er Angst hatte, klangen seine Worte doch herausfordernd.
»Was meinst du?« fragte Niche leise.
»Wenn jemand die Zukunft Sieht, warum kann er sie dann nicht verändern?«
Diese Worte waren eine Anklage. Der Junge hatte sich gegen seine Adoptivmutter gelehnt und benutzte seine geschützte Position, um Rugar einen Köder vorzuwerfen.
Aber Rugar ließ sich nicht ködern. Er wollte den Jungen für sich gewinnen. »Manchmal kann man die Zukunft verändern«, sagte Rugar. »Wenn man alles versteht.«
Gabe verschränkte die Arme. »Aber du hast nichts verstanden.«
Ein schwieriges Geständnis. Damit würde er preisgeben, daß er keineswegs allmächtig war. Aber wenn Gabe ihn weiterhin für allmächtig hielt, würde er ihm auch immer die Schuld an Jewels Tod geben.
»Nein«, sagte Rugar leise. »Ich habe es nicht verstanden. Das ist nicht ungewöhnlich. Manchmal verstehe ich meine eigenen Visionen nicht. Das passiert jedem. Sie werden erst deutlich, wenn sie Wirklichkeit geworden sind.«
Gabe biß sich auf die zitternde Lippe. »Warum hat man sie dann überhaupt?«
Rugar wünschte, er wüßte eine Antwort auf diese Frage. Früher einmal hatte er geglaubt, die Antwort zu kennen, aber die Blaue Insel hatte alles verändert. »Man hat mir einmal gesagt, daß ein Mann Visionen von Dingen hat, die er nicht ändern kann, damit er an die Visionen von den Dingen glaubt, die er verändern kann.«
»Das ist dumm«, sagte Gabe.
Unwillkürlich mußte Rugar lächeln. »Das habe ich mir auch schon gedacht.«
Gabe sah ihn an, sein Gesichtsausdruck war plötzlich kindlich und vertrauensvoll. »Wirklich?« fragte er.
»Wirklich«, bestätigte Rugar.
Wind beugte sich vor und ergriff Gabes Hand. Der Junge sah zu seinem Adoptivvater auf, der Moment der Vertraulichkeit mit Rugar war unterbrochen. Rugar hätte Wind beinahe einen Verweis erteilt. Beinahe. Aber dadurch hätte er den Jungen vielleicht wieder gegen sich aufgebracht, und es war auch so schon schwierig genug, an Gabe heranzukommen.
»Komm, Gabe«, sagte Wind. »Deine Mutter muß jetzt allein mit deinem Großvater reden.«
Gabe seufzte. Er sah Rugar noch einmal an, aber der vertrauensvolle Ausdruck auf seinem Gesicht war verschwunden. »Ich werde mich aber nicht dafür entschuldigen, daß ich geschrien habe«, sagte er.
»Gabe!« protestierte Niche.
»Schon in Ordnung.« Rugar erhob sich. »Sein Zorn ist berechtigt. Er hat viel mitgemacht.«
Obwohl er zu Niche sprach, blickte er dabei Gabe an. Er wollte, daß der Junge den Moment vergaß, in dem Rugar sein Leben für eine Zukunft aufs Spiel gesetzt hatte, von der ihn die Schamanin für immer ausgeschlossen hatte.
»Ich möchte noch ein bißchen reden«, sagte Gabe. »Du mußt mir sagen, wie man Visionen verjagt.«
»Sie lassen sich nicht verjagen«, erwiderte Rugar. »Aber ich kann
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