Fey 03: Der Thron der Seherin
ein schönes Kind. Sein schwarzes Haar glänzte so seidig und wirkte im Widerschein der Flammen vom Kamin fast blau. Sein Augen waren rund, voller Geheimnis und Intelligenz. Seine geschwungenen Brauen, die hohen Wangenknochen und feingeschnittenen Gesichtszüge machten ihn zu einem typischen Fey, aber er hatte das Gesicht seines Vaters. Jeder, der ihn neben Nicholas sah, hätte diesen sofort als seinen Vater erkannt.
Rugar konnte es niemals vergessen.
Niche lugte aus dem hinteren Raum hervor. In der Hand hielt sie ein Tuch. Wind lehnte sich gegen ihre Schulter, und sein feingeschnittenes Gesicht sah vollständig erschöpft aus. Beide machten den Eindruck, als hätten sie seit einigen Nächten nicht mehr geschlafen.
»Ich dachte, du hättest dich zum Trauern zurückgezogen«, sagte Niche. Ihre Stimme war kalt. Sie legte das Tuch auf einem kleinen Tisch zu ihrer Linken ab und kam näher.
»Mir ist zu Ohren gekommen, daß der kleine Junge hier in Schwierigkeiten war.«
»Es geht ihm wieder gut.«
Gabe beobachtete ihn aufmerksam von seinem Platz aus. Für jemanden, der angeblich dem Tode so nahe gewesen war, sah er verblüffend gesund aus.
»Die Schamanin hatte gesagt, er würde die Nacht nicht überleben. Ich möchte gern wissen, was geschehen ist«, sagte Rugar.
Niche sah zu Gabe hinüber. Ihre Augen waren weit geöffnet. »Gabe, würdest du uns bitte allein lassen?«
»Nein«, erwiderte der Junge in überraschend erwachsenem Ton.
»Gabe«, beharrte Niche. »Ich muß allein mit deinem Großvater sprechen.« Beim Reden hatte sie sich dem Kind zugewandt, und Rugar bemerkte, daß ihre Flügel verbunden und an den Seiten fixiert waren. Irgend etwas war passiert. Etwas Ernstes.
»Los, Junge«, schaltete sich jetzt auch Wind ein. »Ich gehe mit dir nach draußen.«
»Nein«, wiederholte Gabe eigensinnig, ohne den Blick von Rugar zu wenden. Die Augen des Jungen waren von einer neuen, bis dahin unbekannten Feindseligkeit erfüllt.
Rugar ging mit zwei großen Schritten auf ihn zu und hockte sich vor Gabe nieder. Vergebens versuchte der Junge, sich noch dichter an die Wand zu drängen. »Hast du mir etwas zu sagen, mein Sohn?«
Gabe schürzte die Lippen. Niche schüttelte den Kopf, aber er sah sie nicht einmal an. Seine Augen wurden schmal, und er sah genauso aus wie sein Vater, als Rugar versucht hatte, diesem das Neugeborene wegzunehmen.
»Du hast sie sterben lassen.« Die Worte des Jungen waren sachlich, klar und kalt.
Rugar trat einen Schritt zurück.
Niche legte die Hand aufs Herz und blickte Rugar fragend an. Verwirrt zog Wind die Augenbrauen in die Höhe.
Rugar hatte das Gefühl, als hätte man ihm einen Faustschlag in die Magengrube versetzt. »Was?« fragte er.
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Gabe. »Du hast sie sterben lassen.«
»Niemand ist gestorben, Gabe«, versuchte Niche zu beschwichtigen.
»Und warum trauert er dann? Und warum wollt ihr immer, daß ich Großvater zu ihm sage? Ihr nennt ihn nicht Vater. Keiner von euch.«
Fast bittend sah Niche zu Rugar hinüber. Aber er war von der Situation überfordert. Für ihn hatten sich zu viele Dinge zu schnell verändert.
Rugar schluckte. »Ich habe niemanden sterben lassen.«
»Du hast meine richtige Mutter sterben lassen.« Gabe spie ihm die Worte entgegen. Sie fühlten sich an wie kleine Pfeile, die sich in Rugars Haut bohrten.
Niche keuchte. Jetzt blickte Wind seinerseits Rugar schockiert an. Sie hatten beide angenommen, er habe es dem Jungen gesagt. Und er hatte kein einziges Wort darüber verloren.
»Ich habe niemanden sterben lassen«, wiederholte Rugar. Der Satz klang lahm.
»Doch, das hast du«, sagte Gabe. Er lehnte immer noch an der Wand. Rugar jagte ihm zwar Angst ein, aber nicht genug, um ihn am Sprechen zu hindern. »Ich habe darüber nachgedacht. Du hast gewußt, daß sie sterben würde. Du hast gesagt, ich hätte etwas Gesehen, und ich Sah, wie sie starb. Und du hast gewußt, daß es passieren würde, und du hast nichts unternommen.«
»Das verstehst du nicht, Junge«, sagte Rugar.
»Ich verstehe es. Ich verstehe es ganz genau.« Der Junge hatte sich von der Wand abgestoßen, und es war, als triebe ihn sein wütender Zorn fast gegen seinen Willen auf Rugar zu. Er schrie nicht, aber seine Worte waren so voll Kraft und Energie, daß Rugar sie nicht einfach überhören konnte. Rugar stand wie angewurzelt. Niche und Wind ging es offenbar nicht anders.
»Dir sind alle egal«, sagte der Junge. »Als diese alte Dame dir
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