Fey 03: Der Thron der Seherin
deutlich seine Wachsoldaten vor sich, die auf der Straße auf und ab gingen. Keiner von ihnen achtete auf den Baum. Nicht, daß das eine Rolle spielte, nahm Stowe an. Aus dieser Entfernung hätten sie ihn sowieso nicht schützen können. Aber trotzdem hätte er es lieber gesehen, wenn sie ihn im Auge behielten. Sobald er zurück war, mußte er mit ihnen sprechen.
»Schießt hier durch, und nix rührt sich«, sagte Hector. »Ein Pfeil genügt, wenn Ihr gut seid.«
»Er muß gut gewesen sein«, bestätigte Stowe. Und eben das war das Schlimme daran. Wäre der Pfeil auch nur ein paar Zentimeter fehlgegangen, hätte Alexander noch eine Chance gehabt.
»Er muß ganz schön lang hier oben gehockt ham.« Hector rückte vom Stamm ab, um Stowe ein paar Kratzer in der Rinde zu zeigen. »Vielleicht Stunden, vielleicht Tage.«
Tage, auf diesem schwankenden Hochsitz! Stowe wurde schon schwindlig, wenn er einfach nur stillsaß. Das Holz bohrte sich ihm in Rücken und Gesäß. Hier oben war die Luft noch kühler, außerdem war Wasser in seine Stiefel gelaufen.
»Er muß zu allem entschlossen gewesen sein.«
Hector nickte. Beide dachten dasselbe. Diese Tat war nicht im Affekt geschehen. Kein Dorfbewohner wachte eines Morgens auf und beschloß, den König umzubringen. Dies war ein sorgfältig geplantes Attentat, durchgeführt von einem geduldigen und zu allem entschlossenen Mann. Wer weiß, wie lange es gedauert hatte, die genaue Stelle auf der Straße zu ermitteln, die richtige Anzahl Blätter zu entfernen und dann auf dem einzigen Baum in der Nähe geduldig zu warten.
»Aber ich verstehe immer noch nicht, wie er entkommen konnte«, gab Stowe zu bedenken. »Die Wachen kamen sofort herbeigelaufen.«
»Nit sofort«, berichtigte Hector. »In dem Wasser da konnten sie nit rennen. Ihr habt Stiefel gehabt, aber Ihr habt auch Eure Zeit gebraucht. Er hätt’ sich im Wasser verstecken können. ’n Schilfrohr abpflücken, in den Mund stecken und durchatmen. Städter seh’n so was nit.«
Stowe wollte schon widersprechen, aber er schwieg. Wenn Hector unter die Wasseroberfläche kröche, wäre er unsichtbar.
Es war ein guter Plan, aber er überzeugte Stowe nicht. Zu riskant für einen Mann, der tagelang in einem Baum zugebracht hatte.
»Aber ich glaub’ noch was andres«, sagte Hector.
Stowe warf ihm einen Blick zu. Hector schien hier in seiner natürlichen Umgebung zu sein. Der Schlamm auf seiner Haut und Kleidung verschmolz mit der Baumrinde. Sogar das Weiße seiner Augen spiegelte das silbrige Licht, das durch die Blätter über ihren Köpfen tröpfelte. Hector, ein Sumpflebewesen, Stowe ebenso fremd wie ein Fey.
Die Lichter kamen Stowe merkwürdig vor. Nie zuvor hatte er Lichter gesehen, die einen derartig perfekten Kreis bildeten. Hätte er mehr Zeit gehabt, hätte er nachgesehen, ob der Mann auch weiter oben Blätter abgerissen hatte.
»Der Mann, der da durch den Sumpf gestapft is’«, sagte Hector. »Hat fast ’n Kranich totgeschossen. Ich hab’ den Vogel aufgescheucht. Wir töten sie nit, wißt Ihr.«
Stowe wußte es nicht. Er war sich nicht einmal ganz sicher, was ein Kranich war. Aber er nickte trotzdem.
»Der Mann da, der war nit von hier. Zu groß. So große Leut’ ham wir hier nit.«
»Konntest du ihn gut sehen?«
Hector schüttelte den Kopf. »Er war so weit weg wie jetzt die Straße. Aber er kannte unsere Sitten nit. Und er war dünn. Normal dünn, nit wie einer, der lange nix zwischen die Zähne gekriegt hat.«
»Konntest du seine Haut erkennen? War sie dunkel?«
Hector streckte die Arme aus und betrachtete sie, als sei das die Antwort. »Nit dunkler als meine.«
Stowe runzelte die Stirn. Einen Moment lang hatte er geglaubt, Hector beschriebe einen Fey. Dann musterte er Hectors schlammbedeckte Arme. Das tiefe, dunkle Braun der Kenniland-Sümpfe. Die Haut der Inselbewohner hatte eine andere Farbe. Ihre Haut reflektierte das Sonnenlicht wie ein Wasserspiegel.
»So wie deine Haut jetzt?«
»Niemand mit ’nem Funken Grips rennt durch die Sümpfe, ohne seine Haut zu schützen.«
Stowe nahm es für ein Ja. Groß, dünn, dunkel. Kannte die Landessitten nicht. »Trug er einen Bogen?«
Hector zuckte die Achseln. »Glaub’ schon.«
»Weißt du, wo er jetzt ist?«
»Wenn ich er wär’, wär’ ich schon lang über alle Berge. Ihr habt ihm genug Zeit gelassen, wißt Ihr. Ihr seid alle ins Dorf gerannt, als war’ euch der Teufel auf ’n Fersen, und ihr seid alle gekommen. Keiner is’ im Sumpf
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