Fey 03: Der Thron der Seherin
hatte keiner von beiden mehr geschlafen, und das sah man ihnen auch an. Hätten die Diener nicht das System der durchnumerierten Gruppen eingeführt, das die Dienstboten in zehn Gruppen aufteilte, die abwechselnd zum Einsatz kamen, hätten wohl alle Beteiligten so erschöpft ausgesehen.
Charissa stopfte das Poliertuch in die Tasche ihrer großen Schürze und erhob sich langsam. Während des ersten langen Tages hatte sie gelernt, daß zu schnelles Aufstehen höllisch weh tun konnte. Diesmal war sie froh, es richtig gemacht zu haben. Ihr rechter Knöchel war eingeschlafen.
Sie verlagerte ihr Gewicht auf das linke Bein. Die ältere Frau hielt gerade lange genug inne, um mürrisch zu bemerken: »Wird noch ’ne Weile dauern, bis Gruppe Acht dran ist.«
Fast hätte Charissa der Frau ihren Platz in Gruppe Fünf angeboten, aber die Frage schien ihr zu sehr darauf angelegt. Also sagte sie nichts.
Das Prickeln in ihrem Knöchel hatte aufgehört. Überall im Saal stiegen Mitglieder von Gruppe Fünf von Gerüsten, ließen Putzgeräte fallen, wischten sich den Staub von den Schürzen. Dann betrat Gruppe Vier im Gänsemarsch den Saal. Sie sahen immer noch müde aus, aber die Mahlzeit schien sie etwas erfrischt zu haben. Charissas Mutter pflegte zu behaupten, Essen sei ebenso erholsam wie Schlafen, aber bis zu diesem Auftrag hatte Charissa nicht begriffen, wie recht sie damit hatte.
Auch sie klopfte ihre Röcke aus und ging die Stufen hinunter. Der junge Prinz Nicholas, der jetzt König geworden war, würde am Nachmittag ebendiese Stufen emporsteigen, schlank, stark und schön. Er hatte Charissa nie vergessen. Nach allem, was ihm zugestoßen war, nach all den Leuten, die er getroffen, und den Dienstboten, die er gesehen hatte, lächelte er Charissa immer noch zu, wenn sie sich begegneten, und sprach sie mit ihrem Namen an. Ihre einzige Unterhaltung lag schon Jahre zurück, als sie ihm von der seltsamen Katze, die Fey sprach, erzählt hatte und davon, wie sich der alte Haushofmeister plötzlich verändert hatte. Aber der Prinz schien sich noch immer an dieses Gespräch zu erinnern. Manchmal träumte Charissa, daß er an jenem Nachmittag nicht nur ihre Hand genommen, sondern sie geküßt hätte. Dann wäre sie jetzt Königin statt dieser häßlichen Fey-Frau.
Träume, Träume. Charissas Mutter sagte immer, Träume machten nur traurig. Zimmermädchen wurden niemals Königin. Königinnen kamen aus fremden Ländern – Nicholas’ Mutter stammte aus Nye – oder aus dem Adel, wie die geliebte zweite Gemahlin König Alexanders. In der Geschichte der Insel war noch nie ein Zimmermädchen Königin geworden.
Charissa wußte das. Lis hatte es ihr erzählt.
Jetzt hatte Charissa fast die Tür erreicht. Es war ein langer Weg. Es dauerte doppelt so lange, den Krönungssaal zu durchqueren wie den Großen Empfangssaal. Der Haushofmeister beobachtete sie stirnrunzelnd. Er wedelte ungeduldig mit der Hand, um Charissa anzutreiben. Charissa senkte den Kopf und huschte an ihm vorbei.
Über diesen Haushofmeister konnte Charissa sich nicht beschweren. Er behandelte sie gut, anders als sein Vorgänger, der Mann, über den sie mit dem König gesprochen hatte. Jener Haushofmeister hatte sie Dinge tun lassen, um ihre Stelle nicht zu verlieren, von denen der Prinz ihr versprochen hatte, daß sie sie nie wieder tun müßte. Wenn sie jemals wieder ein Problem mit einem anderen Angestellten des Palastes hätte, sollte sie sofort zu ihm kommen. Halb wünschte sich Charissa, auch der neue Meister würde sie belästigen, damit sie einen Vorwand hatte, mit dem Prinzen zu sprechen.
Verglichen mit dem Saal war der Korridor angenehm warm. Der Saal würde wohl nie richtig warm werden. Es gab dort keine Kamine. Es hatte wahrscheinlich keinen Zweck, es überhaupt zu versuchen.
Stimmen flüsterten hinter ihrem Rücken, und sie riß sich zusammen. Sie erkannte den Tonfall des Geflüsters. Jemand wie sie, der seit seinem elften Lebensjahr im Palast arbeitete, kannte dieses Geräusch. Es bedeutete, daß eine wichtige Persönlichkeit im Anmarsch war.
Charissa seufzte leise. Der hohe Besuch bedeutete wahrscheinlich eine Verschiebung ihrer Mahlzeit. Und sie hatte seit dem Mittag nichts mehr gegessen.
Charissa drehte sich um, raffte die Röcke, um jederzeit zu einem Knicks in die Knie gehen zu können, doch dann erstarrte sie mitten in der Bewegung. Der junge Prinz Nicholas! Nicholas, der neue König!
Er war schlank, aber der Schnitt seiner Weste ließ seine
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