Fey 03: Der Thron der Seherin
gesehen, als er sich eingestehen mochte. Nur eine einzige Familie besaß Pfeil und Bogen. Die anderen ernährten sich von Fisch, falls sie sich überhaupt ernährten. Stowe war eine starke Ablehnung der Hauptstadt gegenüber sowie ein regelrechter Haß auf den Palast entgegengeschlagen. Von da an hatte Stowe sich immer von seinen Wachen begleiten lassen, weil er sich davor fürchtete, daß ihm an diesem bedrückenden, feindseligen Ort etwas zustoßen könnte.
Schließlich war mehrere Tage nach der ersten Zusammenkunft Hector auf ihn zugekommen. Genaugenommen hatte er Stowe in der kleinen Hütte des Daniten neben der Kirche geweckt. Hector war zu jeder Tageszeit eine beeindruckende Erscheinung. Jemandem, der aus dem Schlaf gerissen wurde, mußte er wie ein Wesen aus einer anderen Welt erscheinen. Er war breitschultrig und untersetzt. Seine Kleidung war derartig mit altem Schlamm verkrustet, daß sie wohl nie mehr sauber werden würde. Die Stiefel schienen mit seinem Körper verwachsen. Das Gesicht war so schmutzig, daß seine Züge nicht deutlich zu erkennen waren. Das Weiß seiner großen Augen hob sich frappierend von dem schwarzen Gesicht ab, und wenn er sprach, sah man seine ungesund gelben Zähne.
Er hatte sich nicht vorgestellt. Er hatte nur gesagt: »Wenn Ihr Antworten haben wollt, die hab’ ich.«
Und irgendwie hatte jener Satz Stowe an diesen Ort des Todes geführt.
Einer der Wachsoldaten blickte ihn an. »Ich gehe an Eurer Stelle, Herr.«
Stowe schüttelte den Kopf. Das war er Alexander schuldig. Außerdem würde er Nicholas nie erklären können, was passiert war, wenn er jetzt nicht ging.
»Wohin gehen wir?« fragte er Hector.
»Da lang«, antwortete Hector und zeigte unbestimmt in Richtung der Bäume.
»Die Bäume?«
Hector wandte Stowe das verkrustete Gesicht zu. Die beunruhigenden Augen des Mannes musterten ihn, als hätte Hector noch nie zuvor einen solchen Dummkopf gesehen. »Seht Ihr was andres?«
»Die Bäume haben wir schon durchsucht«, wandte ein anderer Wächter ein. »Da ist nichts.«
»Nit für euch Stadtjungs, kann sein«, knurrte Hector.
Er verließ den Pfad und sank sofort bis zu den Waden ein. Das sumpfige Wasser gab ein saugendes Geräusch von sich.
»Kommt Ihr?« fragte Hector.
»Natürlich«, sagte Stowe hastig. Als er den festen Boden des Pfades verließ, hätte er am liebsten die Augen geschlossen und gebetet. Aber er holte tief Luft und folgte Hector.
Der Sumpf griff nach Stowes Füßen. Er war schwerer als Hector und sank bis zu den Knien ein. »Wir werden nur langsam vorankommen«, äußerte Stowe und hoffte, daß seine Stimme unbekümmert klang.
»Wenn Ihr Euch nit anstellt wie ’n Städter«, entgegnete Hector.
Stowe unterdrückte eine Antwort. Er war sein Leben lang ein Städter gewesen. Er hätte gerne gesehen, wie Hector es anstellte, in Jahn eine Mahlzeit zu ergattern. Aber er entgegnete nur, so freundlich er konnte: »Du wirst mir sagen müssen, wenn ich etwas falsch mache.«
»Geht nur in die Richtung, in die Ihr gehn wollt«, erwiderte Hector.
»Ich bin noch nie hier gewesen«, wandte Stowe ein. Seine Füße in den Stiefeln waren jetzt kalt. Verglichen mit der Temperatur des Wassers wirkte die kühle Luft fast warm.
»Das sieht man«, gab Hector zurück.
»Ich wollte sagen«, erklärte Stowe, »daß ich deine Hilfe brauche.«
»Bleibt immer hinter mir«, ordnete Hector an. »Die Straße da is’ nit die einzige Erhöhung in den Sümpfen.«
Aus dieser rätselhaften Bemerkung schloß Stowe, daß es noch einen weniger gut sichtbaren Pfad geben mußte, der zu der Baumgruppe führte. Hector streckte ihm die große, schmutzige Hand hin. Stowe ergriff sie ohne Zögern und ließ sich von dem anderen Mann auf die kleine Anhöhe hinter ihm ziehen. Obwohl er immer noch bis zu den Waden einsank, fühlte sich der Boden unter seinen Füßen fest an.
»Geht langsam«, befahl Hector. »Wenn Ihr zu schnell geht, fallt Ihr. Dann bleibt nix mehr von Euch übrig.«
Kein Wunder, daß die Dorfbewohner Stowe so schockiert angesehen hatten, als er sie gefragt hatte, ob einer von ihnen Alexander getötet hatte. In Anbetracht der Lage des Tatortes und der Schwierigkeit, ihn zu erreichen, hätte Stowe den Mörder auf jeden Fall sehen müssen.
»Was ist so wichtig an diesen Bäumen?« Er war nicht sicher, ob er wirklich die ganze Strecke durch den tiefen Schlamm stapfen wollte.
»Wollt Ihr nu wissen, wer Euren Mann da abgemurkst hat, oder nit?«
›Euren Mann‹. Niemals
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