Fey 03: Der Thron der Seherin
gelächelt. Sie arbeitete eigentlich nicht im Palast. Sie diente Lord Enford, dessen Frau den Dienstboten Lesen beibrachte und sie die Bibliothek benutzen ließ. Lis hatte ihr großes Interesse für Geschichte entdeckt, besonders Architekturgeschichte, und alles gelernt, was sie darüber herausfinden konnte.
Aber heute nachmittag mußte Charissa ohne ihre Gefährtin auskommen, weil Lis für einen anderen Teil des Saals eingeteilt worden war. Die Frau, die jetzt neben ihr arbeitete, war schon älter. Sie kam aus Lord Millers Anwesen, wo man die Stirn runzelte, wenn die Dienstboten überhaupt den Mund aufmachten. Charissa hatte gedacht, die Arbeitsbedingungen seien überall gleich, aber sie fand bald heraus, daß sie es im Vergleich zu Lord Millers strengem Regiment vorzog, im Palast zu arbeiten. Lord Enfords Anwesen und seine Möglichkeiten dagegen ließen sie schwindeln. Was soll eine Frau anstellen, die lesen konnte und sich in Geschichte auskannte? Lis hatte es nicht viel genützt. Sie hatte ihre Familie verlassen müssen, die sich weiterhin mit Landwirtschaft durchbrachte.
Charissa seufzte und setzte sich in der Hocke auf die Fersen. Erst bei dieser Bewegung fiel ihr auf, daß auch ihre Knie schmerzten. Die Frau neben ihr blieb immer wieder stehen und preßte sich die Hand ins Kreuz. Wenigstens darüber brauchte Charissa sich keine Sorgen zu machen. Sie war jung und kräftig. Das mußte sie auch sein. Sie hatte tagelang durchgearbeitet und nachts nur ein paar Stunden geschlafen.
Der Hausmeister gönnte jedem ab und zu eine Mütze Schlaf. Er sagte, es mache die Dienstboten frischer, damit sie den Schmutz besser sehen und bekämpfen konnten. Charissa war sich da nicht so sicher. Nach diesen Nickerchen fühlte sie die Müdigkeit nur noch stärker, als nähme ihr Körper in diesen Ruhepausen Erschöpfung und Schmerzen erst richtig wahr.
Sie rieb sich den Nacken und sah sich um. Männer hingen an Gerüsten, reinigten das Deckengewölbe und putzten die Fenster. Frauen kauerten auf dem Fußboden und polierten das Gold, Silber und Messing, mit dem alles überzogen war. Jeden Tag schrubbten Waschfrauen den Fußboden, bis sie die Schmutzkruste endlich entfernt hatten. Trotzdem schrubbten sie weiter und würden damit fortfahren, bis die Diener die Tische inspizierten. Jemand hatte gesagt, das würde gegen Morgen passieren. Aber Charissa hoffte, bis dahin schon wieder in ihrer Kammer zu sein.
Der Saal sah schon besser aus als vorher. Als Charissa ihn betreten hatte, hatte sie geglaubt, die Aufgabe sei unmöglich zu bewältigen. Spinnweben hingen von der Decke wie im Altweibersommer, und alles war mit zentimeterdickem Staub bedeckt. Das wunderbare zweistöckige Fenster war unter mehreren Schichten schmierigen Schmutzes verborgen, und die Sitze auf den Emporen im zweiten Stock waren zerbrochen und verfault. Als der Hausmeister den Zimmermädchen gezeigt hatte, wo sie mit dem Putzen beginnen sollten, hatte Charissa seine Anweisungen für einen Witz gehalten. Das Metall war derartig schwarz angelaufen, daß es aussah wie verrußt.
Inzwischen glänzte der Saal wieder. Selbst bei Fackelschein funkelten die Messinggeländer. Auf dem Silber um die Fensterbank waren die kostbaren Gravuren wieder zu sehen, auf dem Fußboden der teure, aus Nye importierte Marmor und am Deckengewölbe der weiße Stein. Wenn der Haushofmeister erst den roten Teppich in der Saalmitte entrollt hatte, der die Stufen hinauf zum Krönungspodest führte, war das schwere Werk vollbracht.
Trotzdem galt es noch viele Kleinigkeiten zu erledigen. Wer auch immer diesen Saal entworfen hatte, hatte keinen Gedanken an die Leute verschwendet, die ihn sauberhalten mußten. Winzige Ornamente aus Silber oder Gold, kleine Verzierungen unter den Deckenbögen, dem Zahn der Zeit rasch anheimfallende Holzssäulchen unter der Treppe. Details, Details, nichts als Details. Es schien, als habe die Reinigungstruppe die gewaltige Arbeit nur bewältigt, um Hunderte von kleineren, noch schwieriger zu lösenden Problemen aufzudecken.
»Gruppe Fünf! Essen!«
Charissa sah auf. Sie gehörte zu Gruppe Fünf. Der Haushofmeister stand mit in die Hüften gestemmten Händen unter dem doppelten Türbogen und überwachte die Arbeiten. Er hatte den Befehl zum Essen erteilt. Er beaufsichtigte die Nächte, der Hausmeister die Tage. Dieses System sollte wenigstens einem von ihnen die Möglichkeit zum Schlafen verschaffen, aber das System funktionierte nicht so recht. Seit Beginn der Arbeiten
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