Fey 03: Der Thron der Seherin
ungestört seiner Arbeit nachgehen. Jetzt aber galt es, vorsichtig zu sein.
Das Tor in der östlichen Mauer des Palastes öffnete sich, und sechs Daniten ritten in den Hof, gefolgt von fünf der zehn Ältesten und dem Rocaan selbst. Tel war selbst einmal Ältester gewesen und hatte an der Versammlung teilgenommen, in deren Verlauf der alte Rocaan den Namen seines Nachfolgers bekanntgegeben hatte. Matthias’ Wahl war keine populäre Entscheidung gewesen.
Aber das alles schien heute vergessen. Matthias sah in seiner weiten, roten, zeremoniellen Robe aus wie ein Fürst. Kleine, ziselierte Schwerter baumelten an seiner schwarzen Schärpe, eine größere Ausgabe davon um seinen Hals. Ein Barett thronte auf seinen Locken und ließ ihn noch größer wirken als ohnehin schon. Seine Wangen waren gerötet, die blauen Augen funkelten. Diesen Ausdruck hatte Tel schon einmal gesehen. Nicht, als der Rocaan Matthias zu seinem Nachfolger ernannt hatte – dieses Amt hatte Matthias nicht gewollt –, sondern ein anderes Mal, vor langer Zeit, in einer Erinnerung, die Tel gestohlen hatte, die nicht ihm gehörte.
Er würde später darüber nachdenken. Jetzt war er nur derjenige, der sich um die Pferde der Rocaanisten zu kümmern hatte.
Seine Kehle war wie ausgedörrt.
Dem Rocaan folgten weitere Daniten und zwei Hohe Geistliche. Tel hatte noch nie mehrere Hohe Geistliche zusammen reisen sehen. Wahrscheinlich waren sie gekommen, um den Rocaan bei der korrekten Durchführung der Zeremonie zu überwachen und zu überprüfen, ob er die heiligen Worte an der richtigen Stelle sprach und die richtigen Requisiten bei sich trug.
Jetzt tauchten zwei andere Stallburschen auf. Der eine knöpfte sich noch das weiße Hemd zu. Sie warfen Tel einen auffordernden Blick zu, offensichtlich in der Erwartung, daß er sich um die geistlichen Würdenträger kümmerte.
Es blieb ihm keine andere Wahl.
Er leckte sich die Lippen. Sie waren aufgesprungen. Das war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Es war, als dehnte sich die Trockenheit seiner Kehle nach draußen aus. Tels Herz klopfte heftig, sein Atem ging in kurzen Stößen. Die Tage im Tabernakel in der ständigen Nähe des Gifts hatte er schließlich auch überstanden. Er würde es auch überleben, dem neuen Rocaan gegenüberzutreten.
Der Rocaan stieg vom Pferd, gefolgt von den Ältesten, den Hohen Geistlichen und den Daniten. Für diese Leute zählten nur Brauchtum und Tradition. Da war kein Platz für Neuerungen oder Spontaneität. Normalerweise schützte diese Einstellung Tel. Jetzt hatte sie sich in eine Falle verwandelt.
Es war seine Aufgabe, sich dem Rocaan als erster zu nähern.
Dem Rocaan, dem Mann, der die todbringende Kraft des Weihwassers entdeckt hatte. Dem Mann, der bestimmt auch jetzt Weihwasser bei sich trug, um damit den neuen König zu Segnen.
Tel ging auf die Gruppe zu, drängte sich in ihre Mitte, bis neben das prächtigste Pferd. Er neigte den Kopf und hoffte, daß niemand seine Angst bemerkte. Wenn der Rocaan Verdacht schöpfte, würde er ihn Segnen.
Dann würde Tel hier, mitten auf dem Hof, zu einem blasigen Fleischklumpen zusammenschmelzen, blind und zu einem qualvollen Tod verurteilt.
Er streckte die Hand aus. Zu seiner Überraschung zitterte sie nicht.
Der Rocaan ließ seine Zügel in Tels Hand fallen. Tel atmete auf. Natürlich. Seine Position war zu unbedeutend, als daß er Verdacht erregen könnte. Daß sowohl der König als auch der Prinz seinerzeit mißtrauisch geworden waren, lag eher an ihrer Persönlichkeit als an den ortsüblichen Sitten und Gebräuchen.
Das hatte Tel vergessen.
»Gibt’s ein Problem, Bursche?« fragte der Älteste Porciluna.
Tel hatte ihn noch nie ausstehen können. Porciluna war aufgeblasen, anmaßend, mehr mit dem Reichtum beschäftigt, den sein Amt ihm einbrachte, als mit dem Zustand irgendwelcher Seelen. Diese Vorurteile stammten von dem Ältesten, den Tel seinerzeit übernommen hatte, aber Tel hatte sie zu seinen eigenen gemacht. Je mehr er über den Tabernakel wußte, desto mehr verstand er, wie tief Männer wie Porciluna dessen Ruf in den Schmutz zogen.
»Keineswegs«, murmelte Tel mit abgewandtem Blick. Er durfte keine Aufmerksamkeit erregen. Er zog den Hengst vorwärts. Das Pferd tänzelte neben Tel her, ein kräftiges, herrliches Tier.
»Paß gut auf dieses Pferd auf«, warnte einer der Daniten. »Es ist der Zuchthengst des Königs.«
Tel wußte das. Er kannte den Stammbaum jedes einzelnen Pferdes in Jahn. Er führte das Tier
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