Fey 06: Die Erben der Macht
Niemand hat ihre Stelle eingenommen. Es sind ein Haufen Versager. Sie haben nicht einmal versucht zu kämpfen.«
Ein Tropfen fiel auf Gabes rechte Wange. Er widerstand dem Impuls, ihn wegzuwischen. Es mußte Schweiß sein. Was sonst.
Ein Haufen Versager.
Und sie waren alle tot.
Auch Gabe hätte eigentlich tot sein müssen. Aber er war in Jahn gewesen, um Sebastian zu retten, und hatte nicht gemerkt, was vor sich ging.
»Wenn sie keinen Anführer mehr haben, warum versteckst du dich dann vor ihnen?«
»Weil sie mich hassen«, antwortete die Rotkappe. »Sie sagen, ich zerstöre alles, wofür Jewel gekämpft hat.«
»Für eine Rotkappe bist du verdammt sauber.«
»Ich habe meinen Beruf lange nicht mehr ausgeübt.«
»Und diese ganze Schweinerei hier hast du alleine angerichtet?«
»Es war schwierig, in den Ballen zu kriechen.«
»Komisches Versteck. Warum bist du nicht in die Scheune geflohen?«
»Weil mich die Inselbewohner genauso hassen wie die Fey«, erwiderte die Rotkappe.
»Du bist wohl nicht besonders beliebt, was?« höhnte der Fey.
»Das ist der Fluch aller Rotkappen«, gab Fledderer zurück.
»Na schön«, knurrte der Fey schließlich. »Laßt ihn laufen.«
Gabe fühlte, wie sich seine Schultern entspannten. Leens Finger zuckten. Sie hatten es geschafft. Die Rotkappe hatte sie gerettet.
Dann teilten Hände den Ballen. Wie gelähmt beobachtete Gabe, wie lange braune Finger die Halme beiseiteschoben. Es regnete Heu, als mehrere Händepaare ihn am Hemd packten und herauszogen. Neben ihm passierte dasselbe mit Adrian, Coulter und Leen. Gabe konnte kaum stehen. Er fühlte sich schwach und schwindlig von der Hitze. Fledderer stand vor einer Truppe von Fußsoldaten und Infanteristen und sah bestürzt aus.
»Du hast gelogen, Rotkappe«, sagte eine Feystimme neben Gabe. Gabe drehte den Kopf ein kleines bißchen. Der Fey hatte Flügel und wirkte zerbrechlich. Es war ein Irrlichtfänger. Wider Willen füllten sich Gabes Augen mit Tränen, und er mußte blinzeln, um sie zurückzuhalten.
»Du bist der richtige Urenkel«, verkündete der Fey. »Der, den die Fey aufgezogen haben.«
Leugnen war zwecklos. Vielleicht konnte Gabe wenigstens die anderen retten, wenn er lange genug redete.
»Habt ihr Sebastian gesehen?« fragte er. »Den Wechselbalg?«
»Den Golem? Ja, ich habe ihn gesehen, vor zwei Tagen, als er das Amt entgegennahm, das dir gebührt. Aber wir haben diesem Unsinn ein Ende gemacht. Wenn du das Angebot deines Urgroßvaters annimmst, wirst du nicht nur über die Blaue Insel herrschen, sondern über das gesamte Imperium der Fey.«
»Welches Angebot?« fragte Gabe. Coulter beobachtete ihn. Strohhalme ragten aus seinem gelben Haar.
»Dein Urgroßvater will, daß du freiwillig mit uns kommst. Er wird dich unterweisen, und dann wirst du ihm als Herrscher des Fey-Imperiums nachfolgen.«
Adrians Gesicht war flammend rot und schweißüberströmt. Die Rotkappe sah wütend aus. Leen war vom Stroh ganz zerkratzt. Sie zog die Schultern hoch, offenbar völlig erschöpft.
»Wohin wollt ihr mich bringen?« fragte Gabe weiter. Er versuchte, Zeit zu gewinnen, hoffte, daß die anderen sich etwas einfallen ließen. Vielleicht hatte ja sogar die kleine Rotkappe die rettende Idee. Er schien von allen noch am klarsten denken zu können.
»In den Palast«, entgegnete der Irrlichtfänger. »Dein Urgroßvater erwartet dich dort.«
Plötzlich vergaß Gabe seinen Wunsch zu fliehen. Das Bild von Sebastian, der vor dem Schwarzen König stand, formte sich in seinem Geist. Sebastian, der in Stücke sprang.
»In den Palast der Inselbewohner?« Übelkeit stieg in Gabes Kehle auf. Magensäure brannte von seinem Adamsapfel bis hinunter zum Ende seiner Speiseröhre. »Der Schwarze König ist im Palast der Inselbewohner?«
Der Irrlichtfänger grinste. »Jetzt ist es sein Palast.«
»Aber was ist mit Sebastian? Und meinem Vater? Meiner Schwester? Was ist mit ihnen passiert?«
»Ich dachte, sie bedeuten dir nichts«, erwiderte der Irrlichtfänger.
»Sie sind meine Familie.« Gabe ballte die Fäuste. Er wehrte sich gegen die Hände, die ihn festhielten. »Sie sind alles, was mir geblieben ist.«
»Und deswegen sind sie dir so wichtig?« Die Stimme des Irrlichtfängers verriet eine leise Befriedigung. Zu leise für die anderen, aber deutlich genug für Gabe. Normalerweise zeigten Fey keine Zuneigung zu anderen Menschen. Nicht, wenn diese ihrer Zukunft im Wege standen.
»Ihr dürft meiner Schwester nichts tun«, keuchte
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