Fey 07: Die Augen des Roca
sie dagegen in vollen Zügen ausgekostet, bis sie sich sogar ohne Solandas Erlaubnis und ohne fremde Hilfe Verwandeln konnte, und das jahrelang.
Es war ihr hervorragend gelungen.
Nicholas wäre längst tot, wenn seine Tochter nicht vom Augenblick ihrer Geburt an alle Regeln mißachtet hätte.
Jetzt stieß die Schamanin einen tiefen Seufzer aus und hob eine Hand an das Gesicht. Ihre Augen schlossen sich.
»Jetzt?« fragte Nicholas.
»Wenn du unbedingt willst«, sagte Arianna, als käme es ihr niemals in den Sinn, jemandem zu helfen, der gerade eine Vision gehabt hatte. Oder vielleicht wollte sie auch nur speziell der Schamanin nicht helfen.
Nicholas schob die Arme unter die Achseln der Schamanin und richtete sie auf. Er drückte sie an sich wie ein Kind. So hatte er sie noch nie gehalten, und er hatte sich nicht klargemacht, wie gebrechlich sie war. Sie war so groß und dünn wie Arianna, aber ihrem Körper fehlte Ariannas jugendliche Spannkraft. Es fühlte sich an, als könne Nicholas sie in der Mitte durchbrechen, wenn er zu fest zupackte.
»Alles in Ordnung mit dir?« erkundigte sich Nicholas.
»Soweit das möglich ist«, ächzte die Schamanin. Ihre Stimme schwankte. Sie wischte sich mit Daumen und Zeigefinger die Mundwinkel ab und seufzte wieder.
»Was war das?« fragte Nicholas.
»Ich weiß nicht genau«, antwortete die Schamanin. »Habt ihr etwas Gesehen?«
»Ich besitze keine Visionäre Kraft«, erwiderte Nicholas.
»Ich weiß«, sagte die Schamanin. »Aber manchmal gibt es offene Visionen, besonders wenn etwas gleichzeitig passiert oder wirklich mächtig ist …« Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie schon zuviel verraten.
»Ich habe nichts Gesehen«, wiederholte Nicholas fast enttäuscht.
Die Schamanin blickte Arianna über die Schulter an. »Und du?« fragte sie.
»Ich hatte keine Vision«, erwiderte Arianna. Sie klang erleichtert.
»O weh«, seufzte die Schamanin. Dann fügte sie leise hinzu: »Also ist es meiner.«
»Deiner?« fragte Nicholas.
»Helft mir hoch«, bat die Schamanin. »Wir müssen uns beeilen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Was ist denn los?« fragte Nicholas.
»Helft mir hoch«, bat die Schamanin wieder.
Nicholas drückte sie vorsichtig an sich und zog sie hoch. Sie zitterte am ganzen Leib. Hätte Nicholas es nicht besser gewußt, hätte er geglaubt, sie werde gleich in Tränen ausbrechen.
Die alte Frau wich einen Schritt zurück und klopfte sich den Staub vom Gewand. Dann nahm sie Arianna die Fackel ab.
»Wir müssen weiter«, wiederholte sie.
»Erzähl uns, was du Gesehen hast, während wir gehen«, entgegnete Nicholas, und es klang wie ein Befehl. Er hatte der Schamanin noch nie etwas befohlen.
Die Schamanin führte sie zum Pfad zurück. Sie ging so gebeugt, daß Nicholas sich fragte, ob sie sich beim Fallen verletzt hatte.
»Geht es ihr gut?« wisperte Arianna.
»Ich weiß nicht«, flüsterte Nicholas zurück.
»Kommt«, rief die Schamanin.
Sie beeilten sich, sie einzuholen. Nicholas’ Herz hämmerte. Immer noch fühlte er die zerbrechliche Gestalt in seinen Armen.
»Was hast du Gesehen?« fragte er noch einmal. Die Schamanin stieß einen kurzen Seufzer aus. »Gemäß der Überlieferung der Fey gibt es drei Orte der Macht auf der Welt«, begann sie. »Der erste befindet sich in den Eccrasischen Bergen. Dort liegt der Ursprung der Fey. Man erzählt sich, daß eines Tages ein Ziegenhirte diesen Ort entdeckte und mit seiner Familie dorthin zog. Als sie ihn wieder verließen, waren sie Fey geworden.«
Während die Schamanin sprach, sah sie ihre Gefährten nicht an. Ihre Stimme zitterte.
»Wie kam das?« fragte Arianna.
»Hör einfach zu, Kind«, wies die Schamanin sie ungewöhnlich streng zurecht.
Arianna blickte ihren Vater an. Im Fackelschein sah Nicholas die Angst, die sich auf ihrem schmalen Gesicht ausdrückte.
»Ich weiß nicht, wieviel von dieser uralten Legende wahr ist«, fuhr die Schamanin fort, »aber es gehört zur Ausbildung jeder Schamanin, daß sie die Eccrasischen Berge und den Ort der Macht aufsucht.«
»Bist du dort gewesen?« erkundigte sich Arianna.
Nicholas lauschte gespannt. Warum erzählte die Schamanin ihnen das alles?
»Ja«, bestätigte sie. »Ich kam gerade von dort zurück, als ich verpflichtet wurde, Rugars Flotte zu begleiten. Für eine Schamanin bin ich noch jung. Sehr jung.«
Sie machte eine Pause, hob die andere Hand und strich sich über das wie immer zerzauste weiße Haar. Ihre Bewegungen waren langsam und
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