Fey 07: Die Augen des Roca
sie vorgefunden hatten: Nahrung, Wasser, sogar Decken. Es schien, als habe die Bande, die sich vor ihnen hierher zurückgezogen hatte, ihren Schlupfwinkel fluchtartig verlassen müssen.
»Ich weiß«, antwortete Con und hoffte, Sebastian durch seine Zustimmung zu beruhigen. Sebastian hatte sich in vielerlei Hinsicht als schwierig erwiesen. Hatte er einmal eine Idee, so war er nicht mehr davon abzubringen. Als ihn Con aus dem Palast gerettet hatte, hatte er unbedingt seine Schwester und seinen Vater sehen wollen. Schließlich hatte Con ihn angelogen und ihm erzählt, sie würden in den unterirdischen Gängen nach den beiden suchen.
Einen Tag später hatte Sebastian mit sorgenvollem Gesicht gesagt: »Wir … suchen sie … nicht … mehr.«
Das stimmte. Der König war verschwunden und hatte seinen Sohn sich selbst überlassen. Nein, der König war nicht etwa tot, Con hatte ihn mit eigenen Augen aus dem Palast reiten sehen. Er war ohne seinen Sohn verschwunden, einen Sohn und Nachfolger, der schon von Natur aus stark benachteiligt war. Angesichts von Sebastians Schwäche schien dies eine ungewöhnlich grausame Reaktion zu sein. Con hatte das Gefühl, als könne er Sebastian nicht auch noch im Stich lassen. Sebastian war ein Teil seiner Weisung, jedenfalls empfand er es so. Nicht der Rocaan, sondern der Heiligste hatte gewußt, daß Sebastian beschützt werden mußte. Er war es, der Con geschickt hatte.
»Jetzt«, sagte Sebastian. So beunruhigt und drängend hatte sich seine rauhe Stimme noch nie angehört.
Con drehte sich zu ihm um. Manchmal fiel es ihm schwer, Sebastian anzusehen, auf dessen grauer Haut sich Sprünge und Risse abzeichneten. Jetzt sahen sie aus wie Sorgenfalten. Sie verrieten Sebastians Angst ebenso wie das vorspringende Kinn und die herabgezogenen Mundwinkel.
»Warum?« fragte Con fast gegen seinen Willen.
»Der … Zauber … hat … sich … verändert«, erwiderte Sebastian.
Con hatte keine Ahnung, was das heißen sollte. Er wußte jedoch, daß Sebastian zur Hälfte Fey war und daher Dinge wußte, die Inselbewohner nicht wissen konnten. Davor hatten sich auch die Geistlichen gefürchtet, als Con mit seinem Schützling in die Höhle gestolpert kam.
Bring ihn weg von hier, hatten sie gesagt. Er ist ein Fey. Er gehört nicht hierher.
Aber er ist der Sohn des Königs, hatte Con protestiert.
Er kann hier nicht bleiben, hatten sie geantwortet.
Er ist meine Weisung, hatte Con erwidert.
Das hatte sie zum Schweigen gebracht. Kurze Zeit später war es erneut zu einer Diskussion über Sebastian gekommen, aber wieder hatte Con die richtige Antwort parat. Wenn sie Sebastian gehen ließen, so würde er vielleicht die Fey herführen. Diese Gefahr hatten sie gegen alle Leute abgewogen, die sich in der Höhle versteckt hielten, und seither durfte niemand von ihnen die Höhle verlassen.
»Wo sollen wir denn hin?« wollte Con wissen. Seit Tagen fragte er sich das selbst. Er verabscheute die Dunkelheit hier, das Warten, die Vorahnung kommenden Unheils. Die Geistlichen hatten die Geschriebenen und Ungeschriebenen Worte offenbar völlig vergessen.
Die Stärke eines Mannes liegt in seiner Fähigkeit, sich und andere zu retten.
Die Geistlichen mochten diesen Satz vielleicht vergessen haben, nicht aber Con.
»Ich … weiß … nicht«, antwortete Sebastian. »Wir … müssen … einfach … gehen. Sofort.«
»Wir alle?«
»Nein.« Sebastians Sorgenfalten schienen noch tiefer zu werden. »Du … und … ich.«
Con wischte sich mit der Hand über die Stirn. Die Angst, die er so lange unterdrückt hatte, flackerte jäh auf. Er war hierher geflohen, weil ihm kein anderer Ort eingefallen war. Sein ursprünglicher Plan war gewesen, wieder zum Tabernakel zurückzugehen, aber es hatte nur einiger Sekunden bedurft, um zu erkennen, daß der Tabernakel und die gesamte Stadt vernichtet worden waren.
Vermutlich hätten sie versuchen können, Cons Familie ausfindig zu machen, um festzustellen, ob jemand überlebt hatte. Con war der Zweitgeborene, der noch als Junge, wie es der Tradition entsprach, dem Rocaanismus überantwortet worden war. Seine Familie hatte ihn weggegeben, und Con gehörte jetzt dem Rocaan. Es war ein so schmerzlicher Abschied gewesen, ein solcher Verlust, daß er es vorgezogen hatte, seine Familie nie wiederzusehen.
Er war sich nicht einmal sicher, ob er wissen wollte, wie es ihnen ergangen war.
»Wir können nirgendwo hingehen«, sagte Con. Er stellte sich vor, wie sie versuchten, sich quer
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