Fey 07: Die Augen des Roca
täuschst. Der Schwarze Thron beruht auf der Magie des Blutes. Wenn dieses Blut, an dem du durch deine Mutter teilhast, sich gegen sich selbst wendet, bricht völliges Chaos aus. Millionen werden sterben. Du kannst dein eigenes Leben für ein waghalsiges Abenteuer in Gefahr bringen, Kind, aber das Leben von Millionen Menschen darfst du nicht aufs Spiel setzen. Und du«, setzte die Schamanin hinzu und warf einen Blick auf Nicholas, »darfst das auch nicht.«
»Aber ich habe es bereits getan«, erwiderte er. »Ich habe versucht, ihn zu töten.«
»Wirklich?« fragte die Schamanin. Sie schien noch mehr in sich zusammenzusinken, drehte sich aber nicht um. »Du bist ein Krieger, lieber Nicholas. Krieger verfehlen ihre Ziele nicht.«
Nicholas’ Herz klopfte ihm bis zum Hals. Arianna runzelte die Stirn und warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
»Warum solltest du ihn nicht töten wollen?« fragte sie.
»Ich wollte ihn ja töten«, antwortete Nicholas.
»Aber etwas in dir hat es verhindert. Etwas ließ dich innehalten, anstatt ihm den Kopf abzuschlagen«, sagte die Schamanin.
»Ja«, stimmte Nicholas zu. »Sein harter Nacken.«
Arianna verschränkte die Arme, und die Decke rutschte von ihren Schultern. Darunter trug sie Reithosen und ein Leinenhemd. Sie sah verfroren aus.
Die Schamanin schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es war mehr als nur das«, widersprach sie. »Ich glaube, du hast geahnt, welche Konsequenzen diese Tat haben würde, wenn sie sich als falsch erwiese. Du bist ein Mann, der gewohnt ist, Entscheidungen für Tausende von Leuten zu fällen. Es ist ein instinktiver Vorgang. Auch in diesem Fall bist du deinem Instinkt gefolgt.«
»Du hörst dich so überzeugt an«, sagte Nicholas.
Endlich drehte sich die Schamanin zu ihnen um. Ihr Gesicht war grau, die Augen tiefdunkel. »Ich habe es Gesehen«, flüsterte sie. »Ich habe Gesehen, wie sich das Blut gegen sich selbst wendet. Das Chaos.«
»Wann?« Ariannas Frage hatte einen scharfen Unterton.
»Zum ersten Mal habe ich es an jenem Tag Gesehen, als ihr beide, du und dein Vater, dem Schwarzen König entkommen seid«, antwortete die Schamanin. »Ich hatte eine ganze Reihe von Visionen, und in der letzten wandte sich Blut gegen Blut, die Fey wurden wahnsinnig und töteten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Ich habe diese Vision immer und immer wieder Gesehen, mein Kind. Es ist eine Möglichkeit.«
»Ich habe es nicht Gesehen«, entgegnete Arianna.
»Wir Sehen nicht alles«, erklärte die Schamanin. »Wir Sehen nur Teile des Ganzen. Manchmal Sehen wir sogar überhaupt nichts. Aus diesem Grund vergleichen Visionäre ihre Visionen. Du hast an jenem Tag etwas Gesehen. Ich auch. Wir sollten es miteinander vergleichen.«
Die Wärme, die Nicholas noch vor kurzem gespürt hatte, war verflogen. Statt dessen war ihm plötzlich eiskalt. Er glaubte an Visionen. Er kannte ihre Grenzen und ihre Stärken. Arianna lebte, weil die Schamanin eine Vision gehabt hatte, eine Vision, daß jemand bei Ariannas Geburt zu Hilfe kommen mußte. Sonst wäre nicht nur Jewel, sondern auch Arianna gestorben.
»Du hast also Schwarzes Blut gegen Schwarzes Blut kämpfen sehen«, sagte Nicholas mit unsicherer Stimme.
Die Schamanin nickte. Daher rührte ihre veränderte Stimmung, seit sie hier angekommen waren. Der Grund dafür war nicht nur, daß sie sich von allem, was sie je gelernt hatte, abgewandt und ihren Platz im Schattenland verlassen hatte, weil sie nicht mit den anderen Fey der ersten Invasion zusammen hatte sterben wollen. Es war auch nicht nur ihre Sorge um ihn und Arianna, nein, sie ängstigte sich um die Zukunft der ganzen Welt.
Alles hing jetzt von ihrer Entscheidung ab.
Die sie gemeinsam trafen.
Schon zweimal hatte Nicholas die eigene Welt untergehen sehen, aber die Fey waren sonderbare Eroberer. Sie zerstörten nicht einfach alles. Felder und Ernten ließen sie unangetastet, und die Leute, die sich darum kümmerten, unverletzt, damit der ertragreiche Boden dem Imperium der Fey zugute kam.
Sollten die Visionen der Schamanin aber eintreffen, dann würde auch das verschwinden. Die Fey würden in geistiger Umnachtung versinken, ihr Reich zerbrechen und in so gewaltigen Feuersbrünsten untergehen, wie sie die Welt seit Beginn der Eroberungszüge der Fey nicht gesehen hatte.
Beim bloßen Gedanken daran drehte sich Nicholas der Magen um.
»Glaubst du ihr?« fragte Arianna.
Nicholas nickte. »Mit Visionen sollte man nicht leichtfertig umgehen«, sagte er.
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