Fiasko
kein Kontinent und keine Gegend bevorzugt oder benachteiligt wurde. Das Buch enthielt auch das Votum separatum einer mehrköpfigen Gruppe von SETI-Experten, die einen extremen Pessimismus vertraten. Ihren Behauptungen zufolge gab es weder materielle Mittel noch Botschaften oder leicht dechiffrierbare Erklärungen, die nicht als perfide Verschleierung aggressiver Absichten gedeutet werden konnten. Dies entsprang zwangsläufig den unausräumbaren Unterschieden im technologischen Niveau. Das im 19. und noch auffälliger im 20. Jahrhundert als Rüstungswettlauf bekannte Phänomen war mit dem Paläopithekus auf die Welt gekommen, als er die langen Schenkelknochen der Antilope als Keule benutzte und — nach gastronomischen Kategorien ein Kannibale — damit nicht nur Schimpansen den Schädel einschlug. Nachdem im Schnittpunkt der mediterranen Kultur jedoch die Wissenschaft, die Gebärerin der sich beschleunigenden Technologie, entstanden war, verliehen die militärischen Fortschritte der kriegführenden europäischen und nachher auch außereuropäischen Staaten keinem ein erdrückendes Übergewicht über die anderen. Die einzige Ausnahme von dieser Regel war die Atombombe, aber auch deren Monopol besaßen die Vereinigten Staaten von Amerika, historisch gesehen, nur für einen winzigen Moment. Die technologische Kluft zwischen den Zivilisationen im Universum muß hingegen gigantisch sein, mehr noch, es dürfte praktisch unmöglich sein, auf eine entwicklungsmäßig so ausgestattete Zivilisation wie die irdische zu stoßen.
Der dicke Band enthielt noch viele gelehrte Spekulationen. Ein Ankömmling, der seine unterentwickelten Gastgeber in die Geheimnisse der Sideraltechnologie einweihte, sollte lieber entsicherte Handgranaten in einem Kindergarten verteilen. Offenbarte er sein Wissen jedoch nicht, so setzte er sich dem Verdacht aus, doppelzüngig zu sein und eine Vorherrschaft anzustreben. Auf die eine Weise war es also schlimm und auf die andere nicht gut.
Der Tiefsinn der Ausführungen tat endlich seine Wirkung, und dank dem SETI-Programm sank der Leser, ohne das Buch wegzulegen und das Licht zu löschen, in festen Schlaf.
Er schritt eine schmale, steile Gasse hinunter. Vor den Haustüren spielten Kinder in der Sonne, vor den Fenstern trocknete Wäsche. Das holprige, mit Abfällen, Bananenschalen, Speiseresten und Kippen übersäte Pflaster wurde von einem Rinnstein durchschnitten, der schlammiges Wasser führte. Weit unten öffnete sich der Blick auf den Hafen. Er war voll von Segelbooten, flache Wellen liefen auf den Strand, zwischen den ans Ufer gezogenen Fischerkähnen waren Fangnetze aufgehängt. Das Meer war glatt bis zum Horizont und spiegelte glitzernd die Sonne. Es roch nach gebratenem Fisch, nach Urin und Olivenöl, er wußte nicht, was ihn hierher verschlagen hatte, war sich aber sicher, daß dies Neapel sein mußte. Ein kleines braunes Mädchen rannte schreiend hinter einem Jungen her, er blieb stehen und tat, als wolle er ihr den Ball zuwerfen, aber als sie ihn erreicht hatte, riß er wieder aus. Andere Kinder riefen etwas auf italienisch. Aus einem Fenster im Obergeschoß lehnte sich, mit zerzaustem Haar und nur im Hemd, eine Frau und nahm die getrockneten Unterkleider und Röcke von einer über die Gasse gezogenen Leine. Weiter unten begann eine Treppe mit geborstenen Stufen. Plötzlich kam alles ins Schwanken, Geschrei brach aus, Wände stürzten ein. Wie angewurzelt stand er in Wolken von Mörtelstaub, er sah nichts mehr, hinter ihm krachte es, das Grollen der Erde übertönte das Geschrei, das Gekreisch der Frauen und das Poltern der Ziegel. „Terramoto! Terramoto!“ Der Ruf versank in einem zweiten, langsam anschwellenden Grollen. Ein Schauer von Putz ging nieder, er hielt schützend die Hände über den Kopf, spürte einen Schlag ins Gesicht und erwachte.
Das Beben hörte jedoch nicht auf. Ein gewaltiger Druck preßte ihn auf das Lager, er wollte aufspringen, die Gurte hielten ihn fest, das Buch schlug ihm gegen die Stirn und flog zur Decke — das war nicht Neapel, es war der HERMES, aber es dröhnte, und die Wände krachten, die ganze Kajüte schwankte, er hing in der Luft, die Lampe flackerte. Er sah das aufgeblätterte Buch und seinen Pullover, beide platt an die Decke gepreßt. Aus den kippenden Regalen kullerten Filmrollen — das war kein Traum und auch kein Donner. Die Alarmsirenen gellten. Das Licht wurde schwächer, flammte wieder auf und erlosch. In den Ecken
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