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Fiasko

Fiasko

Titel: Fiasko Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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erst der Decke, dann des Fußbodens ging die Notbeleuchtung an. Tempe fingerte an den Schlössern der Gurte herum, um sie zu lösen, aber sie klemmten, ein Druck legte sich auf seine Brust, Blei füllte die Arme, das Blut drängte in den Kopf. Nicht er warf sich hin und her, er wurde gebeutelt, von der Schwere hin und her geschleudert, daß er bald in den Gurten hing, bald fest in der Koje klebte. Jetzt wußte er, was los war. Kam das Ende?
       Mitternacht war vorüber, und um diese Zeit war niemand mehr in der Dunkelkammer.
       Kirsting setzte sich vor das ausgeschaltete Videoskop, tastete nach den Gurten, um sich anzuschnallen, fand blind auch die Tasten und schaltete das Band ein.
       Durch das weiße Rechteck des Projektors liefen nacheinander die Schichtbildaufnahmen. Sie waren beinahe schwarz, nur Häufungen runder Umrisse zeichneten sich heller ab als Schatten auf Röntgenbildern. Ein Ausschnitt nach dem anderen zog vorbei, bis Kirsting das Band stoppte. Er sah sich die Oberflächenspinogramme der Quinta an. Sachte drehte er an der Mikrometerschraube, um das Bild auf größte Schärfe zu stellen. In der Mitte befand sich eine buschige Ballung, einem Atomkern ähnelnd, der nach einem Treffer in strahligen Trümmern auseinanderfliegt. Kirsting verschob das Bild von dem formlosen zentralen Fleck gegen dessen weniger milchigen Rand. Keiner wußte, ob das Wohngebäude sein konnten, so etwas wie eine riesige Stadt. Die Filmaufnahme zeigte sie in einem Schnitt, der sich durch Nukleonen von Elementen abzeichnete, die schwerer waren als Sauerstoff. Diese seit Urzeiten bekannte Schichtbildaufnahme astronomischer Objekte hatte ihre Tauglichkeit lediglich bei Sternen und Planeten erwiesen, die zu schwarzen Zwergen erstarrt waren. Bei all ihrer Vortrefflichkeit hatte die Spinovision ihre Grenzen. Das Auflösungsvermögen reichte nicht aus, einzelne Skelette zu unterscheiden, selbst wenn sie die der Giganto-saurier des Mesozoikums und der Kreidezeit in ihren Ausmaßen übertrafen. Trotzdem versuchte Kirsting, die Skelette der quintanischen Geschöpfe zu erkennen — und nur solche, die den Menschen glichen, waren es ja wohl, die jene „Stadt“ bevölkerten (falls sie eine von Millionen bewohnte Metropole war). Er kam an die Grenze des Auflösungsvermögens und überschritt sie: Die winzigen, aus weißlichen, zitternden Fasern zusammengesetzten Streifen zerfielen, über den Bildschirm flimmerte ein Chaos erstarrter Granulation.
       Kirsting drehte vorsichtig an der Mikrometereinstellung, bis das vorherige verschwommene Bild zurückkehrte. Er wählte die schärfsten Spinogramme des kritischen Meridians und lagerte sie übereinander, daß die konvexen Konturen der Quinta sich deckten wie ein ganzes Bündel von Röntgenbildern ein und desselben Objekts, geschossen in einer Serie von Momentaufnahmen und übereinandergelegt.
       Die vermeintliche Stadt befand sich am Äquator, die Spinographien waren entlang der Achse des Magnetfelds der Quinta angefertigt worden, an der Tangente, wo die Atmosphäre an der Planetenkruste endet. Handelte es sich also um eine Bebauung in einer Ausdehnung von dreißig Meilen, so war sie von den Aufnahmen durchmessen worden wie von einem Röntgengerät, das, in einer Vorstadt aufgebaut, sämtliche Straßen, Plätze und Häuser bis auf die gegenüberliegende Seite der Stadt durchleuchtet. Das bot nicht viel. Betrachtet man eine Menschenmenge von oben, sieht man sie in vertikaler Verkürzung. Betrachtet man sie in der Horizontalen, so sieht man sie nur von vorn, nur die ersten, die in den Straßenzügen auftauchen. Die durchleuchtete Menge erscheint als wildes Getümmel von Knochengerüsten. Immerhin bestand die Möglichkeit, Gebäude von Passanten zu unterscheiden. Bauwerke bewegen sich nicht, also siebten die Filter alles heraus, was auf tausend Spinogrammen am gleichen Ort verharrte. Auch Fahrzeuge ließen sich durch eine Retusche entfernen, die alles beseitigte, was sich rascher fortbewegte als ein Fußgänger. Hätte Kirsting also eine irdische Großstadt vor sich gehabt, wären von den Aufnahmen die Häuser, Brücken und Fabriken ebenso verschwunden wie die Autos und Eisenbahnzüge. Nur die Schatten der Passanten wären übriggeblieben. Derart geo- und anthropozentrische Voraussetzungen waren zwar von höchst zweifelhaftem Wert, aber der Wissenschaftler hoffte dennoch auf einen glücklichen Zufall.
       Kirsting hatte so manche Nacht in der Dunkelkammer zugebracht und die

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