Fiebertraum
nichts Lustiges, als er antwortete: »Die ist nicht für Julian, Cap’n. Sie ist für mich. Die bekommen mich nicht mehr lebend.« Er sah Marsh an. »Ich könnte das gleiche auch für Sie tun, wenn es denn sein soll und wenn es soweit ist.«
Marsh schüttelte mit finsterer Miene den Kopf. »Dazu wird es nicht kommen«, erklärte er und verließ das Ruderhaus. Er erinnerte sich für den Rest seiner Tage an diese Unterhaltung. Er erinnerte sich auch an eine Weihnachtsfeier in St. Louis im Jahr 1859, die von dem Kapitän von einem der großen Ohio-Schiffe veranstaltet wurde. Marsh und Framm nahmen beide teil, ebenso alle anderen Dampfschiffer in der Stadt, und nachdem alle schon einiges getrunken hatten, fingen sie an, sich gegenseitig Flußgeschichten zu erzählen. Er kannte alle Geschichten, aber es war sehr friedlich und gemütlich und beruhigend zu hören, wie die Leute sie den Händlern und Bankiers und den schönen Frauen erzählten, die nicht eine davon je gehört hatten. Sie erzählten von Old Al, dem Alligatorkönig, von dem Phantomdampfer von Raccourci, von Mike Fink und Jim Bowie und Roarin’ Jack Russell, von dem großen Rennen zwischen der Eclipse und der A. L. Shotwell , von dem Lotsen, der ein schlimmes Flußstück bei Nebel befahren hatte, obwohl er längst gestorben war, von dem verdammten Dampfer, der vor zwanzig Jahren die Windpocken flußaufwärts gebracht hatte, an denen dann etwa zwanzigtausend Indianer starben. »Das hat den Pelztierhandel völlig ruiniert«, schloß der Erzähler seinen Bericht, und alle lachten, bis auf Marsh und ein paar andere. Dann berichtete einer von den Riesendampfern, von der Hurricano und E. Jenkins und solchen Schiffen, die sich ihren eigenen Wald auf dem Sturmdeck zogen und die so große Räder hatten, daß sie ein ganzes Jahr lang für eine volle Umdrehung brauchten. Abner Marsh lächelte.
Karl Framm schob sich mit einem Brandyglas in der Hand durch die Menge. »Ich kenne eine Geschichte«, sagte er, und seine Stimme klang leicht betrunken. »Die stimmt sogar. Da gibt es so einen Dampfer namens Ozymandias , wißt ihr ...«
»Davon habe ich nie etwas gehört«, meinte jemand. Framm lächelte knapp. »Du solltest wirklich hoffen, daß du sie niemals zu sehen bekommst«, sagte er, »denn dann ist es mit dir aus. Sie fährt nur bei Nacht, dieses Schiff. Und sie ist dunkel, völlig düster. Schwarz wie ihre Schornsteine, jeder Zentimeter, außer daß sie drinnen eine Hauptkabine hat mit einem Teppich in der Farbe von Blut und Silberspiegel überall, die nichts reflektieren. Diese Spiegel sind immer leer, obwohl sich eine ganze Menge Leute an Bord befindet, bleiche hagere Leute in eleganten Kleidern. Sie lächeln sehr viel. Nur sind sie in den Spiegeln nicht zu sehen.«
Jemand schüttelte sich fröstelnd. Alle waren verstummt. »Warum nicht?« fragte ein Maschinist, den Marsh flüchtig kannte.
»Weil sie tot sind«, sagte Framm. »Jeder einzelne von ihnen ist tot. Aber sie legen sich nicht nieder. Sie sind Sünder, und sie müssen bis in alle Ewigkeit mit dem Schiff herumfahren, auf diesem schwarzen Kahn mit den roten Teppichen und den leeren Spiegeln, immer den Fluß hinauf und hinunter, niemals an einem Hafen anlegend, nichts.«
»Phantome«, sagte jemand.
»Geister«, fügte eine Frau hinzu, »wie auf dem Raccourci-Schiff.«
»Aber nein, zum Teufel«, widersprach Karl Framm. »Durch ein Gespenst kann man hindurchgehen, aber nicht durch die Ozymandias . Sie ist real, und das erfährt jeder sehr schnell und schmerzhaft, der das Pech hat, ihr bei Nacht zu begegnen. Dieses tote Volk ist hungrig. Die Passagiere trinken Blut, müßt ihr wissen. Heißes rotes Blut. Sie verbergen sich im Dunkeln, und wenn sie die Lichter eines anderen Dampfers sehen, dann verfolgen sie ihn, und wenn sie ihn einholen, dann fallen sie über ihn her, alle diese toten weißen Gesichter, lachend, elegant angezogen. Und nachher versenken sie das Schiff, oder sie verbrennen es, und am nächsten Morgen ist nichts mehr zu sehen als ein paar Stangen, die aus dem Fluß ragen oder vielleicht auch ein gestrandetes Boot voller Leichen. Bis auf die Sünder. Die Sünder kehren wieder auf die Ozymandias zurück und fahren bis in alle Ewigkeit weiter.« Er trank seinen Brandy und lächelte. »Wenn ihr also des Nachts draußen auf dem Fluß seid, und ihr seht hinter euch auf dem Wasser einen Schatten, dann schaut genau hin. Es könnte ein Dampfer sein, von oben bis unten völlig schwarz, mit einer
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