Fiebertraum
und so schwer verankert und verriegelt, daß nicht einmal die Kraft meines Vaters etwas dagegen ausrichten konnte. In der Zelle stank es nach Urin, und wir schliefen ohne Decken auf dreckigem Stroh, das auf den Fußboden gestreut war. Es gab nur ein Fenster, aber das befand sich hoch über uns und war nicht mehr als eine kleine Öffnung in einer mindestens zehn Fuß dicken Mauer. Es war sehr klein und außen vergittert. Wir befanden uns praktisch unterhalb der Erdoberfläche, glaube ich, in einer Art Keller. Nur sehr wenig Licht drang zu uns nach unten, aber das hatte natürlich für uns auch wieder gewisse Vorteile.
Als wir allein waren, erklärte mein Vater mir, was ich tun müsse. Er konnte das Fenster noch nicht einmal erreichen, da die Öffnung im Gestein einfach zu eng war, aber ich konnte es; ich war ja noch klein. Und ich verfügte auch über die Kraft, um die Gitterstäbe zu überwinden. Er befahl mir, ihn zu verlassen. Er gab mir auch noch einen anderen Rat. Nämlich mich in Lumpen zu kleiden und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Mich bei Tag zu verstecken und mir bei Nacht etwas zu essen zu suchen. Niemals jemandem zu erzählen, daß ich anders sei. Mir ein Kreuz zu suchen und es um den Hals zu tragen. Ich verstand nicht die Hälfte von dem, was er sagte, und ich vergaß schon bald einiges davon, aber ich gelobte, ihm zu gehorchen. Er meinte, ich solle Frankreich verlassen und die Bediensteten suchen, die hatten fliehen können. Ich solle nicht versuchen, ihn zu rächen, sagte er. Ich würde irgendwann meine Rache schon auskosten können, denn all diese Menschen würden sterben, während ich weiterleben dürfe. Dann sagte er etwas, das ich niemals vergessen habe. »Sie können sich nicht selbst helfen. Der rote Durst hat diese Nation überkommen, und nur Blut wird ihn stillen. Das ist unser aller Fluch.« Ich fragte ihn, was der rote Durst sei. »Du wirst ihn noch früh genug kennenlernen«, antwortete er. »Ein Irrtum ist unmöglich.« Dann hieß er mich zu gehen. Ich zwängte mich durch den schmalen Gang bis zur Fensteröffnung. Die Gitterstäbe waren alt und durchgerostet. Da es unmöglich gewesen war, an sie heranzukommen, hatte sich niemand darum gekümmert, sie zu ersetzen. Sie zerfielen in meinen Händen.
Ich sah meinen Vater nie wieder, aber später, nach der Restauration, die auf Napoleon folgte, stellte ich Nachforschungen an. Mein Verschwinden hatte sein Schicksal besiegelt. Er war eindeutig sowohl ein Zauberer als auch ein Adliger. Er wurde verurteilt und hingerichtet. Sein Kopf fiel auf einer Guillotine in der Provinz. Anschließend verbrannten sie seinen Körper auf Grund des Vergehens, ein Zauberer zu sein.
Aber damals hatte ich von alledem keine Ahnung. Ich floh aus dem Gefängnis, verließ die Gegend und wanderte nach Paris, wo wegen der chaotischen Lage in jenen Tagen das Überleben recht einfach war. Bei Tag suchte ich Zuflucht in Kellern, je dunkler, desto besser. Bei Nacht kam ich heraus und stahl Lebensmittel. Vorwiegend Fleisch. Für Gemüse oder Obst hatte ich nicht allzuviel übrig. Ich wurde ein gewandter Dieb. Ich war schnell, leise und furchtbar stark. Meine Nägel schienen jeden Tag schärfer und härter zu werden. Ich konnte mich durch Holz hindurchkratzen, wenn ich es wollte. Niemand bemerkte mich oder belästigte mich mit Fragen. Ich sprach ein gutes, kultiviertes Französisch, einigermaßen Englisch und ein paar Brocken einfaches Deutsch. In Paris erlernte ich auch den Jargon der Gosse. Ich suchte nach unseren verschwundenen Dienern, den einzigen anderen Angehörigen meiner Rasse, die ich je kennengelernt hatte, aber ich hatte keinen Hinweis, wo ich sie hätte suchen sollen, und meine Bemühungen führten zu nichts.
So wuchs ich inmitten Ihres Volkes auf. Inmitten des Viehs, des Volkes des Tages. Ich war klug und beobachtete genau. So ähnlich ich denen, die mich umgaben, im Aussehen auch war, so anders war ich im Kern, wie ich schnell erkannte. Und zwar besser, wie man mir erklärt hatte. Stärker, schneller und - ich glaubte es damals schon - auch langlebiger. Das Tageslicht war mein einziger Schwachpunkt. Ich bewahrte mein Geheimnis perfekt.
Das Leben jedoch, das ich in Paris führte, war schlecht, verdorben und langweilig. Ich wollte mehr. Ich begann neben den Lebensmitteln auch Geld zu stehlen. Ich fand jemanden, der mir das Lesen beibrachte, und danach stahl ich Bücher, wann immer es möglich war. Ein- oder zweimal wurde ich beinahe erwischt, aber ich
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