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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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konnte immer rechtzeitig verschwinden. Ich konnte mich im Schatten so gut wie unsichtbar machen, konnte blitzschnell Wände hochklettern und mich so leise bewegen wie eine Katze. Wahrscheinlich haben die, die mich gelegentlich verfolgten, geglaubt, ich könnte mich auch in blauen Dunst verwandeln. Manchmal muß es ihnen so erschienen sein.
    Als die Napoleonischen Kriege ausbrachen, war ich darauf bedacht, die Armee zu meiden, da ich wußte, daß ich dort gezwungen sein würde, mich dem Tageslicht auszusetzen. Aber ich folgte den Soldaten bei ihren Kriegszügen. Auf diese Art und Weise zog ich durch Europa und sah viel Brandschatzen und Töten. Und wo der Kaiser gewesen war, dort gab es für mich reiche Beute.
    1805 in Österreich sah ich meine große Chance. Nachts auf der Straße begegnete ich einem reichen Wiener Kaufmann, der vor den französischen Armeen auf der Flucht war. Er hatte sein gesamtes Geld bei sich, umgewechselt in Gold und Silber, eine phantastisch hohe Summe. Ich folgte ihm zu dem Gasthaus, in dem er die Nacht verbrachte, und als ich sicher war, daß er schlief, brach ich ein, um mein Glück zu machen. Er schlief jedoch nicht. Der Krieg hatte ihn ängstlich gemacht. Er erwartete mich bereits, und er war bewaffnet. Er zog eine Pistole unter der Decke hervor und schoß auf mich.
    Schock und Schmerz überwältigten mich. Der Aufprall der Kugel warf mich um. Sie hatte mich im Bauch getroffen, und ich blutete heftig. Aber dann verebbte der Blutstrom plötzlich und der Schmerz ließ nach. Ich stand auf. Ich mußte einen furchtbaren Anblick geboten haben, mit fahlem Gesicht und mit Blut besudelt. Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit, ein Gefühl, das ich noch nie zuvor gespürt hatte. Der Mond schien durch das Fenster, und der Kaufmann brüllte, und bevor ich wußte, was ich tat, hatte ich mich schon auf ihn gestürzt. Ich wollte ihn zum Schweigen bringen, wollte meine Hand auf seinen Mund pressen, aber . . . irgend etwas ergriff Besitz von mir. Meine Hände berührten ihn, meine Fingernägel - sie sind sehr scharf und hart. Ich schlitzte ihm den Hals auf. Er erstickte in seinem eigenen Blut.
    Ich stand da, zitternd, und sah zu, wie das dicke schwarze Blut aus ihm herauspulste, sein Körper warf sich auf dem Bett im fahlen Mondlicht hin und her. Er lag im Sterben. Ich hatte schon früher, in Paris und im Krieg, Menschen sterben gesehen. Dies war jedoch anders. Ich hatte ihn getötet. Eine große Leidenschaft schien mich zu erfüllen, und ich verspürte . . . Begierde . Ich hatte schon oft in den Büchern, die ich stahl, von Begierde gelesen, von Lust und den fleischlichen Gelüsten, denen der Mensch unterliegt. Ich hatte bisher nie etwas davon gespürt. Ich hatte unbekleidete Frauen betrachtet, unbekleidete Männer, Paare, die sich sexuell vereinigten, und nichts davon hatte mich irgendwie angerührt. Ich konnte diesen ganzen Unsinn, von dem ich las, nicht verstehen, die unbeherrschbaren Leidenschaften, diese Lustgefühle, die einen wie Feuer verschlangen. Doch nun kannte ich sie. Das fließende Blut, dieser fette reiche Mann, der durch meine Hand in den Tod geschickt worden war, die Laute, die er von sich gab, das Trommeln seiner Füße auf dem Bett. Das alles schien irgendein wildes Raubtier tief in mir zu wecken. Das Blut benetzte meine Hände. Es war so dunkel, so heiß. Es dampfte, als es aus seiner Kehle quoll. Daher beugte ich mich vor und kostete es. Der Geschmack machte mich wahnsinnig, rasend. Plötzlich vergrub ich das Gesicht in seinem Hals, biß mit den Zähnen zu, zerrte, fetzte, saugte das Blut auf, schluckte. Er hörte auf, sich herumzuwälzen. Ich speiste. Und dann sprang die Tür auf, und da waren Männer mit Messern und Gewehren. Ich blickte auf, erschrocken. Wie muß ich sie damals entsetzt haben. Ehe sie reagieren konnten, war ich durch das Fenster gesprungen und in der Nacht verschwunden. Ich war noch gerade geistesgegenwärtig genug, den Geldgürtel mitzunehmen, als ich mich davonmachte. Damit hatte ich nur einen winzigen Teil des Vermögens dieses Mannes erwischt, aber es war genug.
    Ich rannte in dieser Nacht noch lange und weit und verbrachte den nächsten Tag im Keller eines Bauernhauses, das verbrannt und verlassen worden war.
    Ich war zwanzig Jahre alt. Im Volk der Nacht noch ein Kind, das aber nun erwachsen wurde. Als ich an jenem Abend in dem Keller erwachte, bedeckt mit getrocknetem Blut und den Geldgürtel umklammernd, erinnerte ich mich an die Worte meines

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