Fiese Finsterlinge
den Kopf zur Seite.
»Was ist das?«, fragte sie.
Lilli liebte Kunst, aber sie wohnte erst seit wenigen Wochen in Seattle und hatte dem großen Museum noch keinen Besuch abgestattet. Die anderen folgten ihrem Blick.
»Das ist Der Hämmernde Mann«, erklärte Sandy. Sie ratterte die Fakten über das riesige Kunstwerk herunter, wie es nur eine pedantische Assistenzbibliothekarin vermochte. »Es ist eine kinetische Skulptur, erschaffen vom Künstler Jonathan Borofsky. Sie ist fünfzehneinhalb Meter hoch, fünfundsiebzig Zentimeter breit und wiegt dreizehntausend Kilo. Der Hammer geht tagein, tagaus im Zeitlupentempo auf den Amboss nieder. Der Akt soll das Schaffen des Arbeiters repräsentieren. Es gibt weitere Skulpturen dieser Art. Die höchste steht in Deutschland, in Frankfurt.«
Lilli ging um die Skulptur herum. Der riesige Mann war schwarz angemalt und so schmal, dass es aussah, als schwebe ein aufrecht stehender Schatten über dem Gehsteig vor dem Museum.
»Ganz schön hoch«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu den anderen.
»Ja, und?«, erwiderte Richie.
»So hoch, dass man ihn nicht sieht, wenn man mit dem Auto daran vorbeifährt.«
Sandy deutete nach oben. »Seht euch den Hammer an«, sagte sie.
Die flache Seite des Hammerkopfes war zerkratzt und zerdellt. Farbsplitter hingen daran, und die Oberfläche wies eine schwarze Schliere auf.
»Die Farbsplitter sind weiß und blau«, sagte Sandy.
Richie schaute zu den zertrümmerten Autos hinüber, ein blaues und ein weißes. Der Asphalt war schwarz. »Ich glaube, wir haben unseren Dämon gefunden.«
Einer der massiven Füße der Skulptur begann zu zittern.
»Ich wusste es. Wir hätten lieber zu Hause bleiben sollen«, flüsterte Lilli.
»Hah! Wir haben dich entdeckt«, herrschte Sandy die Skulptur an.
Als Antwort riss der gigantische Metallmann mit einem ohrenbetäubenden Knirsch den Fuß aus dem Boden und trat ruckartig vor.
»Gut gemacht, Sandy«, sagte Richie.
»Lauft weg!«, rief Lilli.
Die drei rannten so schnell sie konnten zum Abschleppwagen. Aber der Hämmernde Mann folgte ihnen gar nicht. Stattdessen riss er den anderen Fuß aus dem Beton, setzte sich mit langsamen, roboterhaften Bewegungen auf der First Avenue in Marsch und hinterließ dabei riesige Fußabdrücke im Gehsteig.
Rumms! Der Hammer krachte auf ein parkendes Auto herab, das umkippte und auf dem Dach liegen blieb.
Lilli wandte sich um. »Was tut er da?«
»Sachen kaputtschlagen? «, erwiderte Richie.
»Warum denn?«
»Wenn man außer einem Hammer nichts anderes besitzt, dann hält man alles für einen Nagel«, sagte Sandy.
»Ja. Wenn man einen Hammer in der Hand hält, dann haut man wahrscheinlich auch irgendwo drauf. Ich würde es jedenfalls tun.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Sandy.
»In den Wagen steigen und weiterfahren«, sagte Lilli. »Wir wollen doch zur Bibliothek, richtig?«
Sandy schüttelte den Kopf. »So dringend ich auch in die Bibliothek möchte, wir müssen hier etwas tun.« Sie sah Lilli direkt an. »Das ist urbane Kunst, die Amok läuft. Genau dein Metier, Lilli. Mit den Graffiti bist du doch auch klargekommen.«
»Es war nur ein bisschen Farbe an der Wand. Das hier ist ein Fünfzehn-Meter-Koloss!«
Wie um ihr Argument zu unterstreichen, ließ der Metallmann seinen Hammer herumschnellen und zertrümmerte vier Plexiglasscheiben eines Buswartehäuschens und beim Rückschwung eine Metallmülltonne.
»Du hast dich auch mit den Gangmitgliedern angelegt«, rief Sandy ihr ins Gedächtnis.
»Mir blieb nichts anderes übrig. Du hast sie wütend gemacht, und sie wollten uns ans Leder. Das Ding dort entfernt sich von uns. Lass es gehen.«
»Und wenn du einfach mit ihm redest…«
»Machst du Witze? Ich mache ihn doch nicht auf mich aufmerksam! Er hämmert alles nieder, was ihm ins Auge fällt.«
Ein Minivan bog auf die First Avenue ein, und die Skulptur erstarrte. Gebannt beobachteten die drei, wie das Fahrzeug näher kam. Der Hämmernde Mann stellte sich leblos, stand wie versteinert da. Die Familie im Minivan würde nichts ahnen, bis er ihnen das Wagendach zertrümmerte. Richie zögerte nicht. Ehe das Fahrzeug die Kreuzung erreichte, rannte er mitten auf die Straße.
»Wartet! Haltet an! Dreht um! Passt auf!«, brüllte er, gestikulierte wild herum und trat direkt vor das Fahrzeug, damit es der Skulptur nicht zu nahe kam.
Der Fahrer scherte aus, um Richie nicht zu überrollen, und entging dadurch, ohne dass es ihm bewusst war, der Attacke des
Weitere Kostenlose Bücher