Fillory - Die Zauberer
alptraumhaften Kinderzimmer-Fantasieland Krieg führten. Es kümmerte keinen, dass Alice tot war, und es kümmerte keinen, dass er lebte.
Nun kannte er die Antworten, aber sie hielten nicht das, was Antworten versprachen: Sie machten nichts einfacher oder leichter. Sie halfen ihm nicht. Er saß auf seinem Bett und dachte an Alice. Und an den armen, dummen Penny, und an den unglücklichen Eliot. Und an diesen armen Irren Martin Chatwin. Natürlich verstand er jetzt die Zusammenhänge, endlich. Aber wie hatte er sich geirrt! Er hätte niemals hierherkommen sollen. Er hätte sich nie in Alice verlieben dürfen. Er hätte niemals überhaupt nach Brakebills gehen dürfen. Er hätte in Brooklyn bleiben sollen, in der wirklichen Welt. Er hätte seine Depressionen und seinen Groll auf das Leben von der relativen Sicherheit des profanen Daseins aus hegen und pflegen sollen. Dann wäre er Alice nie begegnet, aber wenigstens würde sie dann noch leben, irgendwo. Er hätte sein trauriges, vergeudetes Leben mit Filmen, Büchern, Masturbation und Alkohol aufbessern können wie alle anderen auch. Dann hätte er niemals den Schrecken kennengelernt, wirklich das zu bekommen, was er geglaubt hatte zu wollen. Er hätte sich und allen anderen ersparen können, den hohen Preis dafür zu zahlen. Wenn die Geschichte von Martin Chatwin eine Moral besaß, war es diese, kurz und bündig: Klar kann man seine Träume ausleben, aber sie werden einen in ein Ungeheuer verwandeln. Besser, man bleibt stattdessen zu Hause und übt Kartentricks im stillen Kämmerlein.
Natürlich trug Jane einen Teil der Schuld. Sie hatte ihn an jeder Biegung weitergelockt. Aber er würde sich nicht noch einmal reinlegen lassen. Dazu würde er niemandem mehr die Gelegenheit bieten. Quentin spürte, wie ihn eine neue, innere Gleichgültigkeit überkam. Die nachlassenden Gefühle der Wut und Trauer kühlten ab und wurden zu einer glänzenden Schutzschicht, einem harten, transparenten Scheißegal-Lack. Wenn er nicht zurückgehen konnte, dann würde er eben in Zukunft anders handeln. Er spürte, wie unendlich viel sicherer und gesünder diese Einstellung war. Der Trick bestand darin, nichts zu wollen. Das verlieh Macht. Das verlieh Mut: den Mut, niemanden zu lieben und nichts zu erhoffen.
Seltsam, wie leicht alles wurde, wenn nichts mehr zählte. In den darauffolgenden Wochen nahm der neue Quentin mit seiner weißen Warhol-Frisur und der hölzernen Pinocchio-Schulter seine magischen Studien wieder auf. Was er jetzt wollte, war Macht. Er wollte unverletzlich werden.
In seiner kleinen Zelle meisterte Quentin Aufgaben, für die er entweder noch nie zuvor Zeit gehabt oder an die er sich nicht herangewagt hatte. Er kehrte zu den fortgeschrittensten Popper-Techniken zurück – furchtbar schwierige, nur theoretisch durchführbare Exerzitien, über die er sich früher in Brakebills hinweggeschummelt hatte. Jetzt wiederholte er sie wieder und wieder und wurde immer geschickter darin. Er erfand neue, noch grausamere Versionen und meisterte auch diese. Er genoss die Schmerzen in den Händen, verschlang sie. Seine Zauberkunst erlangte eine Kraft, eine Präzision und eine Geschmeidigkeit, wie sie sie nie zuvor besessen hatte. Seine Fingerspitzen hinterließen Feuerspuren, Funken und neonblaue Streifen in der Luft, die summten und jaulten und so gleißend hell leuchteten, dass man nicht hineinsehen konnte. Sein Verstand glühte in kaltem, brüchigem Triumph. Danach hatte Penny gesucht, als er nach Maine ging, aber er, Quentin, hatte das Ziel jetzt tatsächlich erreicht. Erst jetzt, so wurde ihm bewusst, wo er seine menschlichen Gefühle ausgeschaltet hatte, jetzt, wo ihn nichts mehr kümmerte, konnte er wahrhaft übermenschliche Kräfte entwickeln.
Während süße Frühlingsdüfte in sein Zimmer wehten, dann die Ofenhitze des Sommers, während ihm der Schweiß über das Gesicht lief und die Zentauren an seiner Tür vorbeitrabten, stolz und unneugierig, erkannte er, wie Mayakowski einige seiner Zauber hatte verwirklichen können, die er damals so verblüffend fand. Auf einer einsamen Wiese kehrte er Pennys eindrucksvollen Feuerballzauber um. Er fand und korrigierte die Fehler, die er in seinem Abschlussprojekt begangen hatte, der Reise zum Mond, und er vollendete auch Alice’ Projekt, in memoriam. Er isolierte und fing ein einzelnes Photon und beobachtete es sogar, verdammt sei Heisenberg: einen unendlich wütenden, wertvollen, weißglühenden Wellenfunken.
In der Lotusposition
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