Final Cut - Etzold, V: Final Cut
Schreie das Brausen der Flammen übertönten und Ingo M. in den wenigen Augenblicken, die nicht ganz und gar dem Schmerz galten, die schwarze Gestalt sah, die regungslos am Türrahmen stand und ihn unverwandt anblickte.
»Du Dreckschwein!«, kreischte Ingo M., während das fauchende Feuer Schneisen des Schmerzes in seinen Unterleib schnitt. »Du bist nicht besser als ich. Du bist schlimmer. Viel schlimmer! «
»Du hast eine kranke Welt erschaffen«, sagte Vladimir, der das grausame Schauspiel beobachtete, an die Wand gelehnt, die Brille aus mattem Edelstahl auf der Nase. »Und wie alle Menschen, die so eine Welt erschaffen, glaubst du, dass diese kranke Welt dich verschont?«
Statt einer Antwort stieß Ingo ein gutturales Keuchen aus, als die Flammen seine Oberschenkel und seinen Unterleib erfassten und ölige Qualmwolken zur feuchten, von Flechten und Moos bewachsenen Decke stiegen.
»Töte mich!«, schrie er. »Bitte! Das halte ich nicht aus!«
»Töten?« Vladimir schob mit dem rechten Fuß den Bunsenbrenner unter dem Stuhl weg. Der allerschlimmste Schmerz verschwand. Was blieb, war ein grauenhaftes, anhaltendes Brennen, das sich in Ingos Fleisch fraß. Ingo schaute nach oben. Die nahende Bewusstlosigkeit war wieder aus seinen Augen verschwunden.
Vladimir stand vor ihm, bedrohlich wie ein Vampir, der sich aus dem Grab erhoben hatte. Er griff hinter sich, zog etwas aus einem Holster, das auf seinem Rücken befestigt war, und hielt es in der Hand. Es blitzte mit scharfer Klinge im gelblichen Licht des Feuers und im grellweißen Neonschein der Deckenlampe. Es war das Kurzschwert der japanischen Samurai. Ein Wakizashi.
Er hob das Schwert und zielte auf Ingo M., der voller Furcht, zugleich mit einem Anflug von Dankbarkeit und Erleichterung die Augen schloss und einen Tod erwartete, der hoffentlich rasch und weniger qualvoll kam.
Doch statt des hässlichen Geräusches, das entsteht, wenn Stahl sich durch Fleisch bohrt, hörte Ingo M. ein Klicken. Die Handschelle an seinem Handgelenk. Seine rechte Hand war befreit. Er konnte seinen Unterarm bewegen, mehr nicht, aber er konnte in einem gewissen Radius Dinge ergreifen. Benommen fragte er sich, warum sein Peiniger das getan hatte, als der erste und einzige Gegenstand, den er mit der rechten Hand ergreifen und benutzen konnte, mit einem dumpfen Laut in den kleinen Holztisch gerammt wurde, der direkt neben ihm stand.
Das Wakizashi hatte nicht ihn getroffen. Es steckte, noch zitternd von der Wucht des Stoßes, im Holztisch und wartete auf seine endgültige Bestimmung.
»Harakiri«, sagte Vladimir, blickte auf das Schwert und dann in die Augen von Ingo M. »Harakiri ist nicht nur den Samurai vorbehalten.«
Mit diesen Worten schob er den brennenden Bunsenbrenner wieder unter den Stuhl, warf sich die schwarze Tasche über die Schulter und bewegte sich auf den Ausgang zu, verfolgt von den gellenden Schreien seines Opfers, dessen Opfer er selbst einst gewesen war.
Vladimir ließ die schwere Tür zum Keller des Bunkers mit einem hallenden Krachen hinter sich ins Schloss fallen.
Er verließ den Bunker durch den dunklen Kellergang, der zur Treppe führte, die ihn vom dritten Untergeschoss wieder an die Oberfläche brachte, während die Schreie von Ingo M. erst lauter und dann allmählich leiser wurden, bis sie irgendwann nicht mehr zu hören waren.
42.
Vielleicht ist es etwas in Ihrer Vergangenheit? Bestimmt ist es etwas in Ihrer Vergangenheit.
MacDeath’ Worte hallten in Claras Kopf, als sie den Korridor zu ihrem Büro entlanglief.
Der Namenlose hatte vierzehn Frauen umgebracht, wenn nicht mehr. Und was tat sie? Sie schaute in ihre Vergangenheit. Aber vielleicht war diese Vergangenheit genau das, womit sie den Killer schnappen konnte.
Und Vergangenheit bedeutete für Clara fast immer ihre Schwester Claudia. Die tot war. Wahrscheinlich ihretwegen.
Claras Eltern hatten Claudia immer den »besten anzunehmenden Unfall« genannt, denn geplant war sie nicht gewesen. Clara war bereits zehn Jahre alt, als Claudia das Licht der Welt erblickt hatte, doch als sie miterlebte, wie ihre kleine Schwester groß wurde, wie sie die Welt erkundete, war es ihr, als erlebe sie ihre frühe Kindheit noch einmal.
Und damals ahnte sie bereits, was später Gewissheit wurde: dass diese frühe Kindheit für sie der schönste Teil des Lebens war.
Was für eine idyllische, beschauliche Zeit es gewesen war in der kleinen Ortschaft in der Nähe von Bremen, wohin es ihre Eltern irgendwann
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