Final Cut - Etzold, V: Final Cut
Obscene Publications Squad, der »Sittenpolizei« von Scotland Yard, darüber gesprochen. Es gab Filme, bei denen man wusste, dass sie nicht echt waren, die aber echt aussahen, und es gab Filme, die wie ein untoter Spuk immer wieder im Internet auftauchten, egal, wie oft die Behörden Internetseiten sperrten oder Server lahmlegten. Wie in einem Hase-und-Igel-Spiel des Perversen waren sie plötzlich wieder da, gesendet von irgendeiner verborgenen Festplatte auf irgendeinem versteckten Rechner an irgendeinem vergessenen Ort der Welt, gesendet von irgendwelchen gestörten Hackern, die ihre fünfzehn Minuten Ruhm brauchten – wenn nicht für sich selbst, so doch für das, was sie aus der Tiefe des Internets gezogen und für alle sichtbar gepostet hatten, während sie mit diabolischer Freude die Klickraten verfolgten, die auf den Videoportalen in die Höhe schnellten.
Von 300 auf 1000.
Von 1000 auf 10 000.
Von 10 000 auf 100 000.
Dazu die Kommentare.
You think this is real?
No, it’s fake :)))
Check this out, this is REAL!
Und dann irgendein Link zu irgendeiner anderen Seite, die in keiner Suchmaschine auftauchte.
Clara atmete die kalte Luft und trank den Whisky in kleinen Schlucken. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, wie ihre Kehle von dem Whisky brannte; dennoch wusste sie, dass sie diese Nacht nicht schlafen würde, wenn sie nicht herausfand, ob noch etwas anderes, jenseits des Mordes, in dem Video steckte.
You think this is real?
Clara kannte die Filme. Sie hatte sie bei Scotland Yard gesehen, und es gab sie noch immer.
The Dark Side of Porn war eine Reportage über Snuff Movies und über die Frage, ob sie existierten oder nicht. Es waren Filmszenen zu sehen, von denen man geglaubt hatte, sie könnten echt sein. Cannibal Holocaust , Faces of Death , Flowers of Flesh and Blood . Die Reportage war brutal, mit Bildern, die man nur schwer vergessen konnte, ein grausamer Tritt in den Magen, aber der Bericht selbst war sachlich: Keine der Filmszenen war echt, und an keiner Stelle wurde behauptet, dass irgendetwas echt sei .
Two girls one cup war echt und noch immer online. Kaum war es irgendwo gelöscht, tauchte es woanders wieder auf. Zwei Frauen, die sich in den abartigsten Auswüchsen der Fäkalerotik vergnügten, nur anderthalb Minuten lang, aber mit Abstand das Ekelhafteste, was selbst Clara je gesehen hatte. Doch es war bloß widerlich; niemand wurde getötet.
Three guys one hammer hingegen war ein Video, das bei Menschen, die nicht jeden Tag sahen, was Clara oft sah, nachhaltige psychische Störungen hervorrufen konnte – und es war nach wie vor online. Es zeigte die »Dnepropetrowsk Maniacs« aus Russland, die ihrem Opfer mit einem Hammer das Gesicht zerschlugen und mit einem Schraubenzieher Bauch und Gesicht zerstachen. Aufgenommen mit der Handykamera eines der Mörder.
Es war Folter, es war Mord – und es war echt .
Von Two girls one cup – wie auch von Three guys one hammer – gab es eine ganze Serie von Amateurfilmen, die Menschen dabei zeigten, wie sie sich den Film anschauten, und ihre Reaktionen festhielten. Menschen, die sich voller Ekel abwandten, die Augen zukniffen und sich meistens übergaben.
Das Betrachten des Betrachtens , dachte Clara. Das Internet hatte die Perversion des Spektakels auf ein neues Level gehoben.
20.
»Ich kipp gleich aus den Latschen, wenn ich nicht was zu beißen und zu trinken kriege«, sagte Torino, als er mit Jochen die Treppe zum Ufer an der Friedrichstraße hinunterstieg und das Grill Royal wie ein Feldherr betrat. Sie hatten den Wagen nahe dem Friedrichstadtpalast geparkt und waren die paar Meter durch die regennasse kalte Luft zu Fuß gegangen. Drinnen sah es allerdings nicht mehr so aus, als hätte man sich auf eine große Party eingerichtet, an einem Mittwochabend schon gar nicht. Die meisten Gäste waren in Aufbruchstimmung. Nur an zwei oder drei Tischen saßen noch einige wenige beim Grappa und Espresso nach dem Essen.
»Sie möchten noch etwas trinken?«, fragte ein Kellner, als Torino und Jochen sich an einen der freien Tische gesetzt hatten.
»Wir möchten vor allem noch was essen«, sagte Torino. »Ich habe tierischen Kohldampf. Habt ihr so was wie ’ne Speisekarte?«
»Tut mir leid, mein Herr«, sagte der Kellner, »aber die Küche ist bereits geschlossen. Wir hätten höchstens noch ein paar Oliven mit Baguette.«
Torino schüttelte den Kopf. »Das gibt’s ja wohl nicht!«, schimpfte er. »Wo sind wir hier? In Berlin oder in
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