Final Cut - Etzold, V: Final Cut
ungefähr zwei Meter vor ihm blieb das blonde Phantom stehen.
»Du sagst ja gar nichts«, stellte sie zutreffend fest.
Torino riss den Blick von ihr los. Jochen, der bei den Kameras und der Technik stand, bedeutete ihm durch wilde Gesten, doch endlich den Mund aufzumachen, so als wollte er fragen: Wer ist hier eigentlich der Moderator?
» Guter Auftritt bisher«, sagte Torino und ärgerte sich, dass sein Mund so trocken war, dass die Worte nur krächzend hervorkamen. »Gute Basis fürs Weiterkommen und definitiv ausbaufähig. Lass es dir nur nicht zu Kopf steigen. Äh ... Hochmut kommt vor dem Fall.«
Torino ärgerte sich, dass ihm nichts Klügeres eingefallen war. Er sah, wie Jochen die Augen verdrehte, den Kopf schüttelte und mit seinem dicken Wurstfinger auf das Script tippte.
»Bevor Dinge fallen«, sagte die Sünde und schaute frivol auf Torinos Hose, »steigen sie erst. Oder etwa nicht?«
Torino räusperte sich. »Darum sind wir hier«, sagte er knapp. »Diesmal klares Votum: Up! Was sagen die anderen?«
Stille von der Tribüne. Der TED blitzte auf dem Monitor auf.
98 Prozent.
» Klares Votum auch vonseiten der User«, sagte Torino, nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als jetzt mit der Sünde oder wie immer sie hieß, alleine zu sein, aber nicht vor der Kamera mit all den Leuten. »Glückwunsch zum Weiterkommen.«
Die Sünde verließ die Bühne, während die Mädchen auf der Tribüne hinter ihr her gafften und das schwarze Tuch auf dem von Scheinwerfern beschienenen Boden liegen blieb.
17.
Das ist kein Spezialeffekt.
Die Worte von MacDeath erklangen immer wieder in Claras Kopf, als sie die Wohnungstür aufschloss, Mantel und Tasche auf das Sofa im Wohnzimmer warf und die Lampe neben dem Couchtisch einschaltete.
Das ist echt.
Sie bewegte die Schultern auf und ab, um die Spannung in ihren Muskeln zu lösen. Ihr Puls raste, ihr Magen brannte. Sie streckte die Arme zur Decke, hörte die Gelenke knacken und die Sehnen knirschen. Seufzend ging sie zum Schrank und schenkte sich einen doppelten Whisky ein.
Normalerweise versuchte sie, unter der Woche nichts zu trinken, harte Sachen erst recht nicht, aber es funktionierte nicht immer, besonders, nachdem sie auf dem Revier schon einen halben Pappbecher Whisky getrunken hatte. Doch normalerweise sah sie kurz vor Feierabend auch keine Live-Tötungen junger Mädchen auf CDs, die ein perverser Killer beim LKA in den Briefkasten geworfen hatte, adressiert auf ihren Namen.
Clara öffnete die Balkontür, trat nach draußen, genoss den kühlen Wind, der über die Schönhauser Allee wehte, und trank in kleinen Schlucken.
Ein Film, der einen echten Mord zeigt , dachte sie.
»Snuff Movies« waren eine der unheimlichsten Großstadtlegenden, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hatte, und allein schon das vage Gerücht von einer Untergrundmafia, die »Kunden«, die bei normalen Pornos nicht mehr auf ihre Kosten kamen, mit besonders explizitem Material versorgte, reichte aus, um bei fast jedem Menschen den nackten Horror hervorzurufen. Denn Snuff Movies nennt man Filme, in denen Menschen vor laufender Kamera gefoltert und getötet werden, um damit ein wie auch immer geartetes, vor allem aber gut zahlendes Publikum zu unterhalten.
Ein Film, der einen echten Mord zeigt , dachte Clara noch einmal.
War es ein Snuff Movie?
Keine Spezialeffekte.
Alles echt.
Clara hatte damals an der Akademie die FBI-Definition von Snuff Movies gelernt: »In einem Snuff Movie ist eine Person am Anfang lebendig und am Ende tot. Die Darstellung der realen Mordtat dient der sexuellen Erregung des Zuschauers, und das Video wird allein aus diesem Grund an gut zahlende Kunden verkauft.«
Nach dieser Definition des FBI macht erst die Absicht der kommerziellen Verwertung eines Mordes in Bild und Ton ein Snuff Movie zu einem echten Snuff.
Die Frage blieb: Gab es Snuff Movies wirklich? Manche glaubten, dass der erste Snuff im Jahre 1969 gedreht wurde, als Tex Watson und Susan Atkins von der Charles Manson Family in Bel Air bei Los Angeles die schwangere Sharon Tate und sieben weitere Personen bestialisch ermordet hatten. Alle wussten, dass Sharon Tate zum Zeitpunkt der Tat schwanger gewesen war, doch dass Tex Watson ihr bei lebendigem Leib das Baby aus dem Leib geschnitten hatte, wusste nur die Polizei. Dennoch war ein Film über diese Gräuel nie gefunden worden, und die Frage blieb: Gab es Snuff Movies wirklich? Oder hatte Clara gerade
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