Final Cut - Etzold, V: Final Cut
Glaskästen, vor denen sie standen. »Wissen Sie, dass diese Käfer Aasfresser sind? Vielleicht haben sie vorher an einer Leiche gefressen, die schon seit Jahren beerdigt ist. Das würde unsere ganzen Ermittlungen durcheinanderbringen.«
»Zugegeben, das Ganze ist nicht sonderlich wahrscheinlich.« Clara nickte. »Je nachdem, wie lange der Mord an dem ersten Opfer zurückliegt, sprechen wir von einem Käfer, der vielleicht schon einige Jahre alt ist und genau so lange tot ist. Und wenn das so lange her ist, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass dieser tote Käfer sich unter den lebenden befunden hat, die wir am Tatort von Jasmin Peters oder Jakob Kürten gefunden haben.« Sie sah von Weinstein an. »Aber haben wir etwas anderes?«
Von Weinstein nickte, obwohl er lieber den Kopf schütteln wollte. »Haben wir nicht. Aber das Risiko, sehr viel Zeit zu vergeuden und nichts herauszufinden, ist immens.«
»Dieses Risiko müssen wir eingehen.« Clara zuckte mit den Schultern.
»Dr. von Weinstein«, sagte MacDeath, »die Mordkommission hat der Rechtsmedizin ausdrücklich den Auftrag erteilt, diese Untersuchung vorzunehmen. Und auch wenn dieser Fall noch nicht an die Presse gelangt ist, besteht die Möglichkeit, dass unser Killer selbst versucht, seine nächsten Morde auf irgendeine Weise publik zu machen.«
Er schaute von Weinstein mit dem gleichen analytischen Blick an wie vorhin Clara. »Es würde sich nicht gut machen, wenn die Presse herausfindet, dass die Polizei offenbar nicht sonderlich daran interessiert war, alle Möglichkeiten zu nutzen, um den Mörder zu finden. Oder?«
Von Weinstein rieb sich noch einmal die Augen und steckte seine Brille schließlich in die Brusttasche seines Kittels. »Sie haben ja recht, wir haben nichts anderes. Trotzdem ist es der berühmte Kampf gegen Windmühlen.«
»Wer kämpft, kann verlieren«, sagte Clara, ging zum Ausgang und sagte über die Schulter zu von Weinstein: »Wer nicht kämpft, hat schon verloren.«
7.
Etwas Dunkles hatte sich aufgebaut, so riesig und bedrohlich, dass es den ganzen Horizont einnahm und den Himmel verdüsterte. Und es hatte Vladimir angefallen. Plötzlich. Aus dem Nichts.
Ingo hatte Vladimir aufgefordert, ekelhafte Dinge mit seinem Körper zu machen. Aber das sei Vladimir ihm schuldig; schließlich habe er sich besonders um ihn gekümmert, hatte Ingo gesagt: Er habe sich mit ihm zusammen Videos angeschaut und ihn vor den Schlägern im Heim beschützt. Dafür kannst du ein bisschen nett zu mir sein, hatte er gesagt und seine Hose geöffnet. Dann hatte er Vladimir auf das Sofa gedrückt und ihn auf den Bauch gedreht, und der Junge hatte den nach Zigaretten und Chili con Carne stinkenden Atem gerochen, als Ingo sich auf ihn schob; er hatte Ingos harte Erektion gespürt, erst an seinem Körper, dann in seinem Körper. Etwas war schmerzhaft in ihn eingedrungen – etwas, was dort nicht hingehörte. Wie bei diesen Wespen, die ihre Eier mittels eines langen Stachels in andere Insekten legen, wo sich die Wespenmaden dann vom Fleisch ihres Wirts ernähren.
So etwas war nun auch in Vladimir. Es fraß ihn von innen auf, verschmutzte ihn, vernichtete ihn. Immer. Auch wenn Ingo nicht da war.
Vladimir lag in seinem Bett und wimmerte. Schmerzen wüteten in seinem Unterleib. In mir ist etwas, was dort nicht hingehört. Er musste es loswerden, aber wie? Sich die Bauchdecke aufschneiden, die verseuchten Innereien herausreißen, um zu sterben und als reiner Geist zu leben, frei von Schmutz und Abscheu? Oder war etwas in ihm zerstört worden, was er nie wieder zurückbekommen würde? Etwas, das einen anderen Menschen aus ihm machte?
Er würde es dem Direktor des Heims sagen. So etwas konnte, durfte nicht sein.
Es dauerte lange, bis Vladimirs Tränen versiegten.
8.
Es war am frühen Freitagabend, als Julia vor dem Computer saß und auf Dategate einige Mails checkte. Vielleicht würde sie nachher noch mit ein paar Leuten auf die Piste gehen, aber das tat man ja ohnehin nicht vor Mitternacht. Im Hintergrund lief der Fernseher, diese neue Show, Shebay . Julia hörte mit halbem Ohr hin, als der Moderator ein paar Kandidatinnen zur Schnecke machte. Im Moment lief eine Aufzeichnung; nachher würde die Endausscheidung live übertragen werden.
Julia fragte sich beiläufig, ob sie sich nicht auch einmal bei Shebay bewerben sollte, während sie die Mails überflog. Es waren die üblichen Mails von notgeilen Prolls, irgendwelche Fakes, bei denen die Typen Fotos von
Weitere Kostenlose Bücher