Final Cut - Etzold, V: Final Cut
dauernd vor. Es war dem Direktor im Grunde egal, aber das, was von seinem Gewissen noch übrig war, fragte sich dennoch, ob man so etwas tolerieren könne.
Er kannte Ingo M. – schließlich hatte er ihn eingestellt, weil er wenigstens mal einer war, der hart durchgreifen konnte. Dass es ihm offenbar Spaß machte, die Kinder zu schlagen, hatte der Direktor leider auch registriert. Und gefallen hatte es ihm nicht. Doch Abstriche musste man immer machen. Bei der alten Gutmenschen-Tante, die vorher das Heim geleitet hatte, hätte so einer wahrscheinlich nie einen Job bekommen; die Dame war eher eine Vertreterin der Kuschelpädagogik. Dafür herrschte jetzt aber auch Ruhe und Ordnung im Heim und nicht Anarchie wie zuvor.
Womöglich stimmte die Story also, die der blasse, verängstigte Vladimir ihm erzählt hatte. Der Direktor beschloss, mit dem Pfleger zu sprechen, aber er würde ihn sicher nicht feuern. Das bedeutete Papierkram, und Ingo M. fuhr dann vielleicht schwere Geschütze auf: Anwälte, Arbeitsgericht, das volle Programm. Womöglich musste dann jemand anders eingestellt werden, der sich vielleicht als Softie erwies und nicht die nötige Härte besaß, auch mal zuzuschlagen, wie Ingo M. es tat – was zwar nicht den Richtlinien entsprach, aber hier nötig war, denn im Haifischbecken hilft kein gutes Zureden, und Gewalt war eh das einzige Mittel, das dieser Proletennachwuchs verstand. Die meisten würden sowieso als krimineller Abschaum enden. Besser wär’s, sie würden gar nicht existieren. Aber dann wäre der Job des Direktors überflüssig. Auch nicht gut.
***
Vladimir verließ das Büro des Direktors.
Ich werde mit dem Pfleger sprechen, hatte der Mann gesagt und dann zur Tür gezeigt. Wenn du dich schlecht fühlst, melde dich auf der Krankenstation.
Der Direktor würde also mit Ingo sprechen. Aber würde das helfen? Würde Ingo ihn, Vladimir, dann in Ruhe lassen? War der Direktor mächtig genug?
Etwas in ihm ahnte schon, dass es nichts nützen würde.
Etwas in ihm ahnte, dass es nur anders ging.
Der Ninja?
Ein Gedanke stieg langsam in ihm auf und nahm Konturen an. Schwarz, mächtig, böse. Etwas in ihm beschloss, etwas Großes zu tun.
Er würde Ingo töten.
***
»Was fällt dir ein, du verdammter kleiner Schwanzlutscher?«
Der Schlag traf Vladimir ins Gesicht. Er schmeckte Blut im Mund. Der Geschmack vermischte sich mit dem des Hühnerfrikassees, das es an diesem Abend gegeben hatte.
Ingo saß auf dem Jungen und drückte dessen Arme mit den Knien auf den Betonboden. Sie waren unten in der Wäscherei, wo an diesem Tag, einem Samstag, niemand arbeitete.
»Du rennst zum Direktor, um mich anzuschwärzen? Ist das der Dank dafür, dass ich dir geholfen habe, du kleiner Hurensohn? Dass wir uns zusammen Videos angeschaut haben?«
Noch ein Schlag. Ein stechender Schmerz, ein grässliches Knacken. Blut füllte Vladimirs Rachen. Seine Nase war gebrochen.
Ingo M. fühlte sich sicher. Er würde später behaupten, Vladimir habe sich mit einem anderen Jungen geprügelt. Dem anderen würde er vorher ebenfalls eine reinhauen, damit es nach einer echten Prügelei aussah.
Vladimir kniff die Lider zusammen und blickte durch von Tränen verschleierte Augen in das aufgedunsene Gesicht Ingos, das auf ihn hinunterblickte, zu einer wutverzerrten Grimasse verzogen.
Gewalt ist ansteckend. Wir geben weiter, was wir bekommen.
» Wenn du das noch mal machst, wird es richtig schlimm für dich«, sagte Ingo und beugte sich hinunter, sodass Vladimir der faulige Atem seines Peinigers ins Gesicht wehte. »Dagegen wird dir das hier wie das Paradies erscheinen.«
Er öffnete Vladimir mit Gewalt den Mund und ließ langsam einen ekelhaften, klebrigen Faden aus Speichel und Schleim in den Rachen des Jungen laufen.
Vladimir würgte, doch Ingo drückte ihm brutal den Mund zu.
»Das ist für dich«, sagte er, »als kleines Geschenk von mir.«
Gewalt ist ansteckend.
Vladimir würgte, als er den Schleim im Mund hatte, den Geschmack aus Hühnerfrikassee, Blut und Fäulnis. Die Hand, die ihm grob den Mund zuhielt, tat höllisch weh.
Und irgendetwas erwachte in Vladimir. Etwas Großes, Schwarzes, Unkontrollierbares. Der Ninja? Etwas in ihm, etwas für ihn.
Vladimirs Kopf schnellte nach oben. Seine Stirn traf seinen Peiniger auf die Nase. Ingos Kopf flog nach hinten. Er stieß einen unterdrückten Schmerzensschrei aus, bekam sich dann wieder unter Kontrolle und blickte Vladimir mit einer Mischung aus Hass und Erstaunen an,
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