Final Cut - Etzold, V: Final Cut
M. war einer der Aufseher im Heim, Anfang dreißig, ein Typ, dem schon mal die Hand ausrutschte. Er hatte einen Körper wie ein Fass, lange, knochige Gliedmaßen und große, fleischige Hände, mit denen er schon manchen rebellischen Heimbewohner »eingenordet« hatte, wie er es nannte.
Vladimir aber schien er zu mögen, obwohl es dafür keinen erkennbaren Grund gab. Er verstieß zwar nicht gegen die Regeln, war aber derart schweigsam und unzugänglich, dass es oft schien, als würde er gar nicht existieren.
»Willst du ein Ninja-Video sehen?«, hatte Ingo ihn gefragt.
»Warum nicht?«, hatte Vladimir geantwortet.
Sie hatten in Ingos Zimmer gesessen, dort, wo auch die Kameras installiert waren, die die Flure überwachten, und hatten sich das Video angeschaut.
Um die Nacht zu bekämpfen, muss man ein Teil der Nacht werden, hatte der Hauptdarsteller in seiner Rolle als Ninja gesagt.
Die Story des Films, die in den 80er Jahren in den USA spielte, erinnerte Vladimir auf beängstigende Weise an seine eigene Geschichte. Ein junger Elitekämpfer, der in einer Anti-Drogen-Abteilung des FBI gearbeitet hatte, war in die Fänge eines mächtigen Rauschgiftringes geraten. Die Drogenbarone hatten seine gesamte Familie ausgelöscht. Dann wurde er selbst von den Bossen gefangen und unter Drogen gesetzt. Er wurde abhängig von dem, was er bekämpft hatte, doch ihm gelang die Flucht. Er lernte einen Ninja-Meister kennen, der ihn einer kompromisslosen Entziehungskur unterzog und dann zum Ninja ausbildete.
Und der Ninja nahm Rache, tötete jedes einzelne Mitglied der Drogenbande, bis er am Ende dem Drahtzieher, dem Drogenboss, gegenüberstand und ihn und seine Leibwächter in einem furchtbaren Zweikampf besiegte. Am Ende bettelte der schwerverletzt am Boden liegende Unterweltboss nur noch um seinen Tod. Der Ninja zog sein Schwert, hob es, während die Hoffnung auf Erlösung in den Augen des Drogenbosses aufblitzte – und rammte es in den Erdboden. Mit den Worten »Harakiri ist nicht nur den Samurai vorbehalten« überließ er den halb toten Drogenboss seinem Schicksal.
Nach dem Ende des Films hatte Vladimir zitternd und voller Aufregung auf den Bildschirm gestarrt. Er sah den schwarzen Ninja noch immer vor sich, sah, wie er alle Feinde tötete und am Ende siegreich aus dem Bild ging.
Doch der Fernseher war nicht die Realität. Die Realität war hier. Sie war das Heim, das Zimmer von Ingo, in dem sie saßen, wo die Monitore blinkten, der orangerote Aschenbecher stand und das Fenster vergittert war wie überall im Heim.
Und die Realität war auch, dass Vladimir von dem Film so gefesselt gewesen war, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie Ingo ihn die ganze Zeit lüstern angestarrt hatte und dabei immer näher an ihn herangerückt war.
6.
Winterfeld stand am Fenster, einen Zigarillo in der Hand, und blies wieder meditativ Rauch in die kalte, nasse Herbstluft, während Clara fröstelnd neben ihm stand.
»Erklären Sie es mir noch einmal«, sagte er. »Sie haben mit den Insektenforschern gesprochen, und die sagen, diese Käfer können DNA speichern?«
»Das ist richtig«, erwiderte Clara und vergrub die Hände noch tiefer in den Taschen, erstaunt, wie sehr Winterfeld gegen Kälte immun zu sein schien. »DNA-Moleküle sind Eiweißstrukturen. Sie werden bei einem normalen Verdauungsprozess aufgelöst und sind dann nicht mehr zu identifizieren. Aber es gibt Ausnahmen.«
»Und welche?«, fragte Winterfeld, während er an seinem Zigarillo zog.
»Insekten, besonders Käfer, verfügen über ein Exoskelett, das aus Chitin besteht. Wie mir die Insektenforscher am Institut gesagt haben, benötigt diese Chitinhülle Kohlenstoffstrukturen. Auch DNA besteht, wie fast alle Bauteile in der organischen Chemie, aus Kohlenstoffverbindungen.« Sie überlegte kurz und rief sich die Informationen noch einmal ins Gedächtnis. »Wenn im Käferorganismus ein Bedarf an Kohlenstoffmolekülen besteht, um die Chitinhülle zu stärken, kann es sein, dass diese
Kohlenstoffverbindungen am Exoskelett des Käfers abgelagert werden, ohne vollständig verdaut zu werden. War die Verdauung vorher nicht allzu weit fortgeschritten, kann man die DNA im Exoskelett noch identifizieren.«
»Das heißt, diese Käfer sind mobile Träger von DNA?« Winterfeld schaute mit halb zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster in die Ferne. Dann blickte er Clara an. »Auch wenn sie längst tot sind?«
»Richtig.« Clara steckte den Kopf zwischen die Schultern, als eine kalte
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