Final Cut - Etzold, V: Final Cut
während Blut von seinen Lippen tropfte. Er war dermaßen verwirrt, dass er die Hand vom Mund des Jungen nahm.
Vladimir spuckte den Schleim aus. Er hatte Angst vor der Reaktion, die mit Sicherheit kommen würde, Angst vor dem Schlag, vor dem Schmerz. Doch da war etwas in ihm, was noch stärker war.
Das Schwarze, Große.
Das Andere.
Das Fremde.
Das Böse .
»Ich mach dich kalt, du miese kleine Schwuchtel«, keuchte Ingo und hob die Hand.
Vladimir starrte mit kaltem Blick nach oben. »Man kann nicht töten, was schon tot ist.«
Einen Augenblick stutzte Ingo; dann traf ein zweiter Schlag Vladimirs gebrochene Nase. Er schrie vor Schmerz, als die Knochen sich verschoben. Sterne tanzten vor seinen Augen.
Ingo wischte sich das Blut vom Gesicht und blickte voller Häme auf sein Opfer.
»Es wäre besser für dich, du hättest mich nie kennengelernt«, sagte er.
Halb bewusstlos, durch einen Schleier von Tränen und Blut, blickte Vladimir in das feiste Gesicht Ingos, der auf ihm saß.
»Ja«, sagte er. »Aber für dich wäre es noch besser gewesen.«
Ein letzter Schlag traf Vladimir, und er verlor das Bewusstsein.
11.
Julia schaute noch einmal auf die Mail, die vorhin im Eingangsfach gelandet war. Die Mail, die sich von den anderen unterschied.
Ich sehe etwas in deinen Augen und frage mich, ob es den anderen auch schon aufgefallen ist.
Julia schaute kurz auf ihre Augen auf dem Porträtfoto, das sie bei Dategate gespeichert hatte. Dann blickte sie auf das Profil des Absenders. Tommy. 32 Jahre alt, blond, sportlich, sah sehr nett aus. Daneben noch ein Bild von ihm an einem Pool. Tolle Figur, der Typ. Mal hoffen, dass es kein Fake ist. Sie las weiter. Sternzeichen: Zwilling. Wohnort: Berlin, Prenzlauer Berg. Beruf: Unternehmer.
Unternehmer , dachte sie. Das hatten wir doch schon mal. Der ist mit Sicherheit nie zu Hause, weil er nur arbeitet, oder er ist in Wirklichkeit arbeitslos. Trotzdem, geben wir ihm eine Chance.
Sie tippte eine Antwort.
Und was siehst du in meinen Augen?
Zwei Minuten vergingen.
Ich sehe eine merkwürdige Stille.
Julia wurde noch neugieriger.
Was für eine Stille?
Jetzt kam die Antwort schneller.
So, als hättest du mit etwas abgeschlossen, von dem du aber weißt, dass es noch nicht vorbei ist. Und ich sehe eine Stärke darin, die aber auch Schwäche zu verbergen versucht.
Kannte der Typ sie? Wusste er von der Affäre? Julia wechselte zu Facebook, suchte einen Tommy in Prenzlauer Berg. Schon bald fand sie ihn. Sie hatten sogar vier gemeinsame Freunde, waren aber noch nicht »connected«. Dann gab sie seinen vollen Namen bei Xing ein. Dort war ebenfalls ein Foto von ihm, im schwarzen Anzug, irgendwo vor einem Wolkenkratzer. »Inhaber« stand dort. Und darunter die Firma: Corvinus Capital. Julia klickte weiter unter »ich suche«, wie es bei Xing üblich war.
Ich suche: Geschäftspartner, Co-Investoren, spannende Projekte im Bereich Renewables, Biotech und Technologie.
Sie hob die Brauen. Der Typ schien wirklich etwas auf dem Kasten zu haben.
Jetzt wollte sie aber wissen, von welcher »Schwäche« er redete. Sie tippte:
Welche Schwäche meinst du?
Diesmal kam die Antwort nach einer Minute.
Du bist einmal verletzt worden. Von einem Menschen, der dir sehr wichtig war. Denn was ist Liebe? Liebe heißt, die verlorene Hälfte des Ichs in einem anderen zu finden und vollständig eins zu werden. Das hast du versucht. Und das versuchst du noch immer. Habe ich recht?
So wichtig war Julia der Spinner mit dem nicht vorhandenen Bentley nun auch nicht gewesen, aber enttäuscht war sie schon. Und das mit der zweiten Hälfte? Na ja, wer suchte die nicht? Sie antwortete:
Ja. Erzähl weiter.
Kurz darauf kam die Antwort.
Du hast diesem Menschen Zugang zu deinem innersten Selbst gegeben, zu deinem Allerheiligsten, und er hat dich dort verletzt. Seitdem schützt du dieses Allerheiligste, damit dir nicht noch einmal jemand wehtut. Das macht dich stark, aber es macht dich auch unnahbar. Meinst du nicht?
Sie tippte: Wahrscheinlich hast du recht.
Eine halbe Minute verging. Dann las sie:
Ich wünsche dir, dass du irgendwann jemanden findest, dem du dich ganz öffnen kannst. Nicht nur, damit er dich versteht, sondern damit ihr als vollkommene Einheit zusammenlebt. Nur dann hast du die verlorene Hälfte des Ichs, die du suchst, tatsächlich gefunden. Das ist wirkliches Glück. Das ist Liebe.
Der Typ war wirklich anders. Und er hatte noch kein einziges Mal nach einem Date gefragt. Irgendwie erregte
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