Final Cut - Etzold, V: Final Cut
schnell zum aktuellen Fall übergegangen.
»Wie kann es sein, dass eine Leiche sechs Monate lang in einer Wohnung liegt, und niemand merkt etwas?«, hatte er gefragt.
»Weil heutzutage die meisten Menschen online kommunizieren. Das heißt, wer online lebt, lebt auch real, selbst wenn er längst tot ist«, hatte Clara geantwortet.
Bellmann hatte ausgeatmet und ein paar Sekunden verstreichen lassen. »In was für einer kranken Zeit leben wir eigentlich?«, hatte er dann gemurmelt, als wüsste er selber nicht weiter, was selten der Fall war.
»In einer sehr kranken Zeit«, hatte Clara erwidert.
»Schnappen Sie diesen Verrückten«, hatte Bellmann zum Abschied gesagt. »Und zwar real. «
Jetzt klingelte wieder das Telefon.
»Vidalis.«
»Weinstein hier. Es gibt Neuigkeiten.«
Clara nahm ihren Stift und zog ein Blatt Papier zu sich heran. »Ich höre.«
»Wir haben bisher ungefähr dreißig Käfer untersucht und in fast allen entweder keine DNA oder nur die von Jasmin Peters oder Jakob Kürten gefunden.«
»In fast allen? Was heißt das?«, fragte Clara ungeduldig und ärgerte sich wieder einmal über Weinsteins umständliche Art.
»In einem Käfer haben wir die DNA einer bisher nicht identifizierten Person gefunden. Möglich, dass dieser Käfer schon vorher tot war, die DNA in ihm also viel älter ist, aber um das festzustellen, müssten wir die Zersetzungsprozesse im Chitinpanzer prüfen.«
»C-14-Methode?«, fragte Clara.
»C-14-Methode ist hier zu grobkörnig, das geht nur ab 300 Jahren. Hier geht nur biochemische Analyse.«
Clara atmete tief ein. Das erste Opfer? Die Nummer eins? Könnte es so einfach sein?
» Können wir dann die DNA identifizieren?«
»Kommt darauf an, wie lange das her ist«, sagte von Weinstein. »Wir können die Krankenhäuser abklappern, ähnlich wie bei Kürten, aber diesmal müssten wir gründlicher ans Werk gehen. Und diesmal können wir uns nicht auf die neue Datenbank des BKA verlassen. Die gibt es nämlich erst seit ein paar Monaten.«
»Das heißt?«, fragte Clara.
»Die Kliniken speichern bei jeder Blutspende und Blutprobe die DNA. Das müssen wir gegenchecken.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Hängt davon ab, wie gut die Datenbanken sind und wie alt die DNA-Probe ist«, sagte von Weinstein. »Unter Umständen kann es Wochen dauern. Und da müssen wir uns überlegen, ob das den Aufwand rechtfertigt. Je weiter das Ganze in die Vergangenheit reicht, desto mehr wird es zur Nadelsuche im Heuhaufen.«
»Na prima«, sagte Clara ernüchtert. »Aber immerhin haben wir etwas. Besten Dank. Schicken Sie uns die Analysen?«
»Sind schon unterwegs«, sagte von Weinstein.
15.
Der erste Teil von Vladimirs Welt war zerstört worden, als seine Eltern starben. Da war er zehn.
Der zweite Teil zerbröckelte, als Ingo M. ihn missbraucht und beschmutzt hatte. Da war er zwölf.
Der dritte Teil fiel in sich zusammen, als seine Schwester Elisabeth verschwand – die Einzige, die wirklich für ihn da war und der er vollkommen vertraute. Da war er dreizehn.
Elisabeth verschwand, weil sie das tat, was die meisten Mädchen mit fünfzehn oder sechzehn tun.
Weil sie einen Freund hatte, ihren ersten Freund.
Tobias hieß er. Er war blond wie Vladimir und auch ungefähr so groß. Lisa, wie man Elisabeth im Heim nannte, traf sich öfter mit Tobias und ging mit ihm auf dem Hof des Heims, aber auch in den nahen Wäldern spazieren.
Was sie wohl dort taten?
Vladimir ahnte es. Und fürchtete es.
Denn durch Tobias würde er nicht nur seine Schwester verlieren. Es war noch viel mehr. Es könnte ja sein, dass dieser Tobias genauso schmutzige Dinge mit seiner Schwester machte, wie Ingo sie mit ihm, Vladimir, gemacht hatte. Er würde sein Ding in sie hineinstecken, sie besitzen, beschmutzen, vernichten.
Das durfte nicht geschehen.
Vladimir stellte seine Schwester zur Rede, doch die wollte nichts davon wissen.
»Vlad, hör auf, mir eine Szene zu machen«, hatte sie gesagt. »Was ist los mit dir?«
»Es ist nicht richtig, was du da tust!«
»Was redest du da? Spinnst du? Irgendwann ist man aus dem Alter raus, wo man als Mädchen die Jungs doof findet und umgekehrt.«
»Es ist nicht gut, dass du mit ihm zusammen bist.«
»Bist du jetzt Moralapostel geworden? Das ist die normalste Sache der Welt.«
»Aber ich bin dein Bruder!«
»Und Tobias ist mein Freund. Und du bist nicht mein Ehemann! Also werde erwachsen!«
Es hatte keinen Zweck. Er würde das Problem auf andere Weise lösen
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