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Final Cut - Etzold, V: Final Cut

Final Cut - Etzold, V: Final Cut

Titel: Final Cut - Etzold, V: Final Cut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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ungeschehen machen.« Sie schaute vom Text auf. »Damit wäre zwar erklärt, warum er tötet, aber da die sexuelle Komponente fehlt, bleibt die Frage offen, warum er gerade Frauen tötet.« MacDeath blickte Clara aufmerksam an, während sie sprach. »Und es ist nicht geklärt, ob der Täter tatsächlich ein Mann ist.«
    »Sehr guter Punkt, liebe Kollegin«, sagte MacDeath und erhob sich. »Und damit kommen wir zu Absatz zwei. Zur Katharsis, der Reinigung.«

22.
    Man kann auf verschiedene Weise aufwachen. Oft befindet man sich noch in einem Traum, dessen diffuse Struktur hier und da von den Lichtblitzen der Realität durchbrochen wird. Manchmal ist man noch so tief im Halbschlaf, dass das Wachbewusstsein zwar zu arbeiten beginnt, die Traumwelt aber noch stark genug ist, um deren Eindrücke in eine vermeintliche Wirklichkeit umzuwandeln. Dem Halbschlafenden erscheint es dann so, als würde er seine eigene Realität schaffen als eine Art gottgleicher Schöpfer – bis ein aufsässiger Wecker schrillt, lange und anhaltend, und man die Energie aufbringt, endlich aufzustehen.
    Oft geschieht das Aufwachen langsam, gleitend. Manchmal weiß man dann schon, dass es ein Samstag ist, an dem man ausschlafen kann, und man genießt den Halbschlaf noch viel mehr. Manchmal weiß man, es ist ein Montag oder Dienstag, und man hat gleich bei der Arbeit eine unangenehme Aufgabe oder Diskussion oder ein schwieriges Gespräch, auf das man sich noch nicht vollkommen vorbereitet hat. Schlagartig ist man wach und kann nicht mehr schlafen bei dem Gedanken an das Unangenehme, das vor einem liegt, auch wenn man noch eine Stunde Zeit hätte, bevor man aufstehen müsste.
    Manchmal steigt man aus einem tiefen, schwarzen, alles verdeckenden Schlaf empor, der einen gnädig alles vergessen ließ, beinahe wie der Tod, der Bruder des Schlafes. Ein Schlaf, der die Schrecken der Erinnerung und der Realität mit einem dunklen Laken des Vergessens verhüllt hat. Man hat am Abend erfahren, dass man seinen Job verloren hat oder dass plötzlich ein guter Freund oder Verwandter gestorben ist. Man dämmert in das Aufwachen hinein, und auf einmal ist die Erinnerung da – mit der Schärfe eines Skalpells und der Helligkeit einer Kernschmelze. Und das Grauen, das man für einen Augenblick verdrängt hat, das unter der Decke des Schlafes verborgen lag, ist wieder lebendig und erhebt sich in diabolischem Triumph wie ein Vampir aus seinem zeitweiligen Grab, nur kurz verbannt von der vorübergehenden Gnade des Schlafes.
***
    Die junge Frau namens Julia nahm schemenhaft die Umrisse ihres Zimmers wahr und sah jemanden, der sich vor ihren Augen bewegte. Sie spürte, dass sie nicht lag, sondern saß, aber das beunruhigte sie nicht. Noch nicht. Ein unbestimmter Schmerz pochte in ihrer linken Schläfe und breitete sich allmählich in ihrem ganzen Kopf aus.
    Doch der Schmerz war nicht alles. Irgendetwas war in ihrem Bewusstsein wie ein riesiger Felsblock, der nur von einem dünnen Seil gehalten wird, im nächsten Moment herunterstürzt und alles zermalmt, was unter ihm ist.
    Sie schlug die Augen auf.
    Und blitzartig war die Erinnerung da. Das Miauen, das Kratzen an der Tür. Princess. Die Pfoten. Die Heckenschere. Der schwarze Mann ...
    Entsetzen schoss durch sie hindurch und staute sich in ihr auf, denn es konnte sich nicht Bahn brechen, konnte sich nicht in einem Schrei lösen, da ein Klebeband Julias Mund verschloss. Und so blieb der Schrei in ihr, und das Entsetzen wütete weiter durch ihren Körper, ohne ein Ventil zu finden.
    Erst jetzt erkannte sie, dass sie Kopfhörer trug, und bemerkte, dass ihre Füße und Hände wie gelähmt waren. Sie war mit Klebeband an den Stuhl gefesselt, von dem sie aufgestanden war, als die Katze an der Tür gekratzt hatte. Dann war das Schreckliche geschehen. Und jetzt saß sie hier.
    Ihr Blick schweifte durch das Zimmer.
    Und dann sah sie ihn.
    Den schwarzen Mann.
    Er trug einen schwarzen Latexanzug, Handschuhe und eine Brille, wie Schweißer sie tragen, sodass Julia die Augen nicht sehen konnte, und das machte ihr paradoxerweise ein wenig Hoffnung: Wenn der Mann maskiert war, wollte er nicht erkannt werden. Und das konnte doch nur heißen, er würde sie am Leben lassen, oder? Dennoch stieg Übelkeit in ihr auf und die Angst, dass sie sich übergeben musste, solange das Klebeband ihr den Mund verschloss. Würde sie an ihrem eigenen Erbrochenen ersticken? Und würde der Fremde dasitzen und belustigt zuschauen?
    Dann hörte sie die Stimme.

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