Finger, Hut und Teufelsbrut
nur in einer einzigen Kleinstadt: Schwäbisch Hall. Wer den Rummel einer Metropole suchte, meldete sich in Hamburg, Düsseldorf, Berlin oder München zum Deutschlernen an. Doch wer sich idyllisches Ambiente wünschte, persönliche Betreuung, authentische deutsche Gemütlichkeit und viel Natur, der war eindeutig in Schwäbisch Hall am besten aufgehoben.
Rani Chopra jedenfalls hatte sich ganz bewusst für das Goethe-Institut in Schwäbisch Hall entschieden. Seit nunmehr drei Wochen besuchte sie den Premium-Kleingruppenkurs
Intensiv
8
plus.
Rani war schwer und doch wieder ganz leicht zu beschreiben. Wer die deutsch-italienisch-französische Film-Koproduktion
Der Tiger von Eschnapur
aus dem Jahr 1959 gesehen hatte, wusste genau, wie Rani Chopra aussah, nämlich exakt wie die amerikanische Schauspielerin Debra Paget als Tempeltänzerin Seetha. Also nicht wirklich indisch, aber doch dunkel genug, um als Inderin durchzugehen. Ihre Mutter war Isländerin und hatte den Kulturschock, von Reykjavīk nach Neu-Dehli zu ziehen, nicht wirklich gut weggesteckt. Auch das Leben im Haus ihrer herrischen Schwiegermutter hatte ihr zugesetzt, weswegen sie sich relativ bald wieder hatte scheiden lassen und mit ihrer Tochter nach England gezogen war.
Rani war aber auch die Tochter ihres Vaters und ließ gelegentlich eine unbändige Sehnsucht nach Indien durchblicken. Heimweh nach einem Ort, an den sie alle Erinnerung verloren hatte und den sie nur aus Filmen, Büchern und Erzählungen kannte. So was gab’s. Rani hatte gerade genug Geld, um sich ihre Sehnsucht nach dem Subkontinent einmal am Tag im
Indian Forum,
dem indischen Restaurant in der Gelbinger Gasse, wegzuessen.
Sie war nicht die einzige Inderin, die derzeit am Goethe-Institut studierte. Außer ihr hatten sich noch Joy Ambani aus dem westindischen Gujarat und Sunil Gupta aus dem nördlichen Punjab eingeschrieben. Beide durch und durch echte Inder, die ihr Heimatland jeweils seit über zwanzig Jahren hautnah erlebt hatten und sich ihrerseits nun nach etwas Neuem, etwas anderem sehnten.
Joy hatte sich in einen Deutschen verliebt, und Sunil war Tenor und wollte in Deutschland Gesang studieren. Zu dritt vergnügten sie sich bisweilen in der Mittagspause mit einem Spontan-Gig: im Innenhof des Goethe-Instituts, auf dem Rasen neben der Bushaltestelle oder auf dem Unterwöhrd. Joy spielte Sitar, Sunil sang und trommelte gekonnt die Tablas, und Rani tanzte. Mit ihrer bunten (in Manchester von pakistanischen Einwanderinnen schwarzgeschneiderten) Nationaltracht und dem geschmeidigen Körper, den sie – gegen alle Gesetze der Schwerkraft – in sämtliche Richtungen verbiegen konnte, war sie eine wahre Augenweide. Zur großen Freude der anderen Studierenden und der vorbeischlendernden Passanten.
Doch während ihre musikalischen Einlagen sonst immer enorm an Bollywood erinnerten, tanzte Rani an diesem Tag mit einer für sie untypischen Ernsthaftigkeit. Hin und wieder kullerte sogar eine Träne über ihre Wange. Ein bisschen wie ein Bollywoodmusical als Schwarz-Weiß-Film unter der Regie von Rainer Werner Fassbinder.
Joy und Sunil warfen sich fragende Blicke zu. Aber Rani redete nie über ihr Privatleben und würde das sicher auch an diesem Tag nicht tun. Sie tanzte nur …
Wer nie im Zorn erglühte, kennt auch die Liebe nicht. (Ernst Moritz Arndt)
Marianne Cramlowski, von den Kollegen in der Redaktion des
Haller Tagblatts
nur MaC genannt, weil sie mit diesem Kürzel ihre Artikel zu zeichnen pflegte, schleuderte ihre Perlenohrringe in den Samsonite-Trolley. Es waren falsche Perlen, sonst hätte sie sie natürlich sanft hineingebettet.
»Aber so war das doch gar nicht«, versuchte Seifferheld sich mit der Stimme der Vernunft zu verteidigen.
MaC pustete sich eine störrische Locke aus dem Gesicht und sah ihn wütend an. Sie knüllte ihre Lieblingsbluse in den Koffer. Leinen knitterte ja angeblich edel.
»Frau Söback hat mir vorgeschlagen, regelmäßig im Radio aufzutreten. Das war eine rein geschäftliche Unterredung.«
Aus Sicht von Siegfried Seifferheld übertrieb MaC maßlos. Zwei vollständig bekleidete Erwachsene hatten in einer Küche an einem Tisch gesessen. Und nur weil der männliche Erwachsene der weiblichen Erwachsenen ein paar Hundehaare aus dem Pony gefischt hatte, sollte das Anlass genug sein, um die Koffer zu packen und auszuziehen? Das war doch albern hoch drei!
»Marianne, ich bitte dich!«
Nachdem sie so plötzlich im Türrahmen erschienen war, hatte sie kein
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