Finger, Hut und Teufelsbrut
einfach die Lüge nicht mehr leben wollen. Das Leben war zu kurz für Heimlichkeiten. Seit seinem Coming-out am Welttag des Stickens wachte er nachts nicht mehr schweißgebadet auf, weil er von Entdeckung und Überführung gealpträumt hatte. Und ehrlich gesagt hatte sich absolut niemand über ihn lustig gemacht, nicht einmal seine Ex-Kollegen vom Mord-zwo-Stammtisch. Okay, sein Harem aus Tochter, Schwester, Nichte und Herzensdame war nicht glücklich gewesen, aber wenigstens tolerierten die Frauen seine Marotte. Und sollte sich irgendjemand trauen, ihm komisch zu kommen, würde er ihm schon zeigen, was man – auch als invalider Senior – mit einem rotierenden Gehstock aus Edelstahl und Hartgummisohle alles bewerkstelligen konnte.
»Man muss das, wovor man sich fürchtet, einfach tun«, zitierte er aus der Aphorismensammlung, in der er abends immer las, wenn er nicht einschlafen konnte.
»Viel mehr Männer sollten Ihrem Beispiel folgen!«, verkündete Frau Söback so vehement, dass Onis seinen Schädel aus ihrem Schoß zog.
Frau Söback beugte sich vor. »Oh, entschuldige, habe ich dich erschreckt? Ist ja alles wieder gut.« Sie drückte dem Hund einen Kuss auf die Stirn. Dann stockte sie plötzlich und richtete sich abrupt auf. »Herr Seifferheld, ich habe da eine geniale Idee!«, rief sie.
Seifferheld hatte jahrelang in einem Frauenhaushalt gelebt. Wenn eine Frau zu ihm sagte, sie habe eine geniale Idee, begannen sämtliche seiner Warnleuchten automatisch zu blinken.
»Ich habe Ihnen ja noch gar nicht erzählt, warum ich so gern sticke«, versuchte er, sie abzulenken. »Wobei ich eigentlich gar nicht so genau weiß, warum mir das Sticken so eine Freude bereitet. Früher habe ich meiner Großmutter dabei zugesehen, aber natürlich nie daran gedacht, es selbst zu versuchen. Aber es ist so ein befriedigendes Gefühl, wenn man ein besticktes Kissen …« Er plapperte. Plappern war oft ein gutes Ablenkungsmanöver.
Doch Frau Söback ließ sich nicht ablenken.
»Ja, genau!«, rief sie und verkrallte sich wieder in seinem Unterarm. Dieses Mal mit beiden Händen.
Onis gab sich geschlagen und legte sich glücklichgerubbelt unter den Küchentisch.
»Herr Seifferheld, mehr Männer sollten den Mut finden, zu ihrem Hobby zu stehen! Ein einziges Interview bringt da nichts. Was wir brauchen … was
Sie
brauchen … ist eine Stick-Sendung im Radio. Auf SWR 4 . 15 Minuten pro Woche.
Tipps und Tricks für stickende Männer!
Interaktiv! Was sagen Sie dazu?«
Seifferheld sagte gar nichts dazu. Er war sprachlos. Bis vor wenigen Wochen noch ein heimlicher Sticker und jetzt gleich eine eigene Radiokolumne? Von null auf hundert in unter einem Monat?
Skeptisch schürzte er die Lippen.
Frau Söbacks Nägel bohrten sich tiefer in sein Unterarmfleisch. »Das ist gar kein großer Umstand für Sie. In Schwäbisch Hall gibt es schließlich ein SWR -Studio! Da können Sie bequem hinlaufen.«
Sie beugte sich weiter nach vorn. Ihre gletscherblauen Augen schienen ihn förmlich zu durchbohren. Die blonden Hundehaare in ihrem dunklen Pony wippten verführerisch.
Seifferheld konnte sich nicht länger in Zurückhaltung üben. Er war ein Mensch, kein Übermensch.
Also hob er seinen freien Arm und zupfte Frau Söback die Fremdhaare aus den Ponyfransen.
Sie kicherte.
Er kicherte.
Und das war – wie könnte es anders sein –
natürlich
der Moment, in dem die Küchentür aufging und Seifferhelds Freundin-Lebensgefährtin-Herzensdame Marianne Cramlowski auf der Schwelle erschien. Sonst eine österreichische Journalistin mit einer Vorliebe für süße Mehlspeisen im Allgemeinen und einen invaliden Ex-Kommissar im Besonderen. Jetzt aber eine dunkle Göttin des Zorns, der kleine Rauchwölkchen aus den Ohren zu steigen schienen.
Seifferheld schluckte.
Schwer.
Wer Musik liebt, singt bei Liedern auch die Instrumente mit.
Die Luft war betäubend schwer vom Duft nach Kardamom, Kurkuma und Feinstaub. Exotische Sitar- und Tabla-Klänge schwebten über die Straße, dazu Händeklatschen und Autohupen. Wohlgerundete Hüften schwangen im Takt.
Der spontane Gig fand weder in Kerala noch in Mumbai statt, sondern vor dem Goethe-Institut in Schwäbisch Hall, auf der Grünfläche direkt neben der Bushaltestelle Spitalbach.
Das Goethe-Institut, immer noch internationaler Marktführer im Bereich Deutschunterricht, mit hochqualifizierten Lehrkräften und modernsten Unterrichtsmethoden, war zwar in allen deutschen Großstädten vertreten, aber
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