Finkenmoor
Döse. Der Wind blies so stark, dass sie sich richtig gegen ihn stemmen musste. Sie hätte doch eine Windjacke über den dicken Rollkragenpullover ziehen sollen. Auch die Gummistiefel erwiesen sich als Fehlgriff. Ihre Füße waren eiskalt.
Moses jagte bellend der einlaufenden Flut entgegen, deren graue Wellen gegen den Strand schlugen. Möwen landeten zielsicher auf einer Steinbuhne, die nur noch zur Hälfte aus dem Wasser ragte. Die Vögel ließen sich vom aufgeregten Gebell des Westis nicht stören und stießen gereihte Schreie aus. Iska kam es vor, als riefen die Vögel den Namen ihres Mannes. Allein der Gedanke an ihn brachte sie zum Weinen. Sie hielt nichts zurück, ließ die Tränen laufen.
Jeden Tag sprach sie mit Friedrich, und bisweilen hatte sie das Gefühl, dass er an ihrer Seite war. Manchmal hing sogar sein Geruch in der Luft. Nicht bloß zu Hause, sondern auch im Supermarkt oder im Café Tiedemann, in dem sie mittags ihren Kaffee trank.
Sie sprach nicht darüber, aber sie war sich ganz sicher, Friedrich hatte sie nicht verlassen. Physisch schon, aber sein Geist lebte weiter. Ruhelos war seine Seele jedoch nicht, er machte ihr keine Angst, wollte ihr beistehen, im Tod ebenso wie zu Lebzeiten, das spürte sie deutlich. Er gab ihr Kraft, spendete Trost.
Moses überholte sie und jagte erfolglos eine Krähe.
Von der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bis zu seinem Ende waren keine sieben Monate vergangen. Als zu kurz empfand sie die gemeinsamen zwölf Jahre.
Nach dem Tod ihres ersten Mannes war Friedrich völlig unverhofft zusammen mit seinem kleinen, quirligen West Highland Terrier in ihr Leben getreten. Friedrich Bade, einer der Kapitäne der MS »Atlantis«, der Fähre, die ganzjährig Helgoland anlief. Bis zu seinem letzten Arbeitstag hatte er hinter dem Steuerstand gestanden, Seeluft geschnuppert und jede einzelne Überfahrt genossen, vor allem in der Zeit von Oktober bis April, wenn die Salons und Sonnendecks des Schiffes ziemlich verwaist blieben.
Bei so einer Fahrt hatten sich ihre Wege gekreuzt. An einem stürmischen Dezembertag war Iska trotz Windstärke sieben an Bord gegangen, um eine Verwandte auf der Insel zum Geburtstag zu überraschen. Obwohl sie an der Küste aufgewachsen war, vertrug Iska Wellengang nicht. Wie erwartet hatte sie den größten Teil der Überfahrt auf der Toilette verbracht.
Immer noch leicht schwankend und kreidebleich hatte sie später am Kaffeetisch der alten Tante gesessen und überlegt, ob sich die Strapazen gelohnt hatten, denn das Geburtstagskind war über den Besuch alles andere als erfreut. Iska zählte die Stunden. Drei Stückchen Frankfurter Kranz und fünf Tassen Kaffee später war es endlich Zeit gewesen aufzubrechen. Sie stand schon in Hut und Mantel, als es klingelte. Iska öffnete die Tür. Friedrich, ein Bekannter ihrer Tante, gefiel ihr auf Anhieb. Seine grünen Augen lachten.
In den Folgemonaten wunderte sich das Tantchen über die vielen Besuche. Dass Iska wegen des Kapitäns die vielen Überfahrten auf sich nahm, erfuhr die alte Dame erst, als das Paar die Hochzeit bekannt gab. Schnell war alles mit ihnen gegangen – worauf auch warten? Zu diesem Zeitpunkt war Iska bereits Mitte fünfzig gewesen und wollte das Leben noch einmal genießen. Das Schicksal hatte es gut mit ihr gemeint, und dafür blieb sie dankbar bis heute. Jetzt war es bald ein Jahr, dass sie Friedrich zu Grabe getragen hatten.
Als es zu regnen begann, ging Iska trotzig weiter.
Nichts zog sie nach Hause. Die Stille, die sie dort erwartete, schnürte ihr schon jetzt die Kehle zu. Einer der wenigen Lichtblicke war ihr Enkel. Ivo besuchte sie montags und freitags, übernachtete manchmal bei ihr, füllte das Haus mit Leben, forderte sie.
Moses kam auf sie zu, blieb vor ihr sitzen und sah sie mit großen Augen an. Iska ging in die Hocke und kraulte den Bauch des Hundes. Sie liebte Friedrichs treuen Begleiter, der sein Herrchen genauso zu vermissen schien wie sie. Iska spürte, wie sehr der Hund zitterte, und nahm wahr, dass sie selbst fror. Außerdem begann es zu regnen. Sie musste nach Hause, sich in die grässliche Stille begeben, der Einsamkeit stellen, die ihr aus jedem Winkel der Zimmer entgegenschrie.
In zwei Tagen würde Ivo die Leere aus sämtlichen Räumen vertreiben. Bis dahin musste sie durchhalten, die Stunden zählen, bis er endlich klingelte. Dann tat sie jedes Mal so, als wäre sie in der Zwischenzeit vom Leben mitgerissen worden und gerade eben wieder aufgetaucht.
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