Finkenmoor
Iska ließ den Jungen nie spüren, wie sehr sie ihn brauchte. Er ahnte nicht, dass er beinahe ihr einziger Lebensinhalt war. Mit solchen Dingen wollte sie seine Jugend nicht belasten.
Iska drehte um, schritt jetzt mit dem Wind und musste nicht mehr gegen ihn kämpfen. Sie verließ den Deich und ging die Promenade in Duhnen hinauf, die wie ausgestorben vor ihr lag. Als sie kurze Zeit später in den Christian-Brütt-Weg einbog, kam ihr der Enkel entgegen.
»Was machst du denn hier?«, fragte Iska überrascht und gleichzeitig erfreut.
»Dich besuchen!« Friedrichs altes Fernglas baumelte vor seiner Brust. »Ich war am Meer. Du glaubst gar nicht, was ich heute beobachtet habe. Pfuhlschnepfen! Oma! Ich kann es immer noch nicht fassen!«
»Junge, du bist ja ganz nass!« Iska beugte sich zu ihm hinunter, drückte ihn fest an sich. »Bist du von Sahlenburg hierher gefahren? Allein?«
Ivo machte eine abwehrende Handbewegung. »Logo, dafür habe ich doch das neue Handbike.«
Iska trat einen Schritt zurück und betrachtete Ivos neues Fortbewegungsmittel. Das dreirädrige Gefährt, das er seit einigen Tagen besaß, war viel wendiger als ein Rollstuhl und eignete sich hervorragend für Fahrten im Gelände, wie Ivo begeistert erzählte. Zum Antrieb und zur Steuerung wurden Handpedale benutzt. Ivo beherrschte es offenbar schon jetzt ohne Probleme und saß lässig auf dem Schalensitz.
Seit einem schlimmen Reitunfall vor vier Jahren war der Junge querschnittgelähmt. Iska hatte es damals erstaunlich gefunden, wie schnell sich Ivo mit diesem Schicksal abgefunden hatte. Schon ziemlich bald nach der schrecklichen Diagnose hatte er die Erwachsenen und sein Umfeld verblüfft, indem er ohne Murren in einen Rollstuhl umstieg und versuchte, das Beste aus der Situation zu machen.
Auch seine Schulkameraden gewöhnten sich schnell daran, dass Ivo nicht mehr laufen konnte. Von gelegentlichen Hänseleien einmal abgesehen, kam er wohl ganz gut zurecht. Ein zäher Bursche.
»Also, jedenfalls sind mir drei Pfuhlschnepfen vor die Linse geraten!«, fuhr Ivo fort, während er neben Iska herfuhr. »Drei! Oma, das ist krass, eine Sensation! Erst neulich habe ich im Fernsehen gesehen, dass genau so ein Vogel in zehn Tagen von Alaska bis nach Neuseeland geflogen ist! Zehn Tage! Das sind voll die Marathonflieger! Und solche habe ich heute gesehen.«
Iska zog den Haustürschlüssel hervor, blieb stehen und sah ihren Enkel an, der aufgeregt von seinem Erlebnis mit den Vögeln berichtete. Wie begeisterungsfähig er war! Iska fand es gut, dass der Junge kein Stubenhocker war, besonders mit dieser Querschnittlähmung. Aber allein zum Meer fahren hielt sie für keine gute Idee. »Weiß deine Mutter, dass du unterwegs bist? Hast du sie angerufen?«
Ivo strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Hab ich vergessen.«
»Du weißt, wie besorgt sie ist, und wir müssen doch wissen, wo du bist. Stell dir vor, dir passiert etwas, du kippst mit dem Ding um oder so!«
»Ach, Oma!«
»Nein, wirklich. Hast du wenigstens dein Handy dabei?«
»Logo.«
»Zeig her.«
Ivo fasste in die Taschen seiner Jeans. »Vergessen.«
»Schatz, das geht doch nicht!«
»Hab ich doch nicht extra gemacht, echt nicht.«
»Nein, in diesen Dingen bin ich mit deiner Mutter völlig einer Meinung. Ohne Handy verlässt du nicht das Haus! Ende. Keine Diskussion!«
Ivo seufzte und neigte den Kopf. Das nasse, schulterlange Haar fiel ihm über die Schläfen und verdeckte sein Gesicht.
»Das musst du doch verstehen.«
»Ich hatte so einen schönen Nachmittag«, sagte Ivo leise. »Sei doch nicht sauer. Ich nehme ab jetzt auch immer mein Handy mit. Versprochen!«
Iska gab sich einen Ruck. Sie konnte ihrem einzigen Enkel einfach nicht böse sein.
»Tolles Bike«, sagte sie, um ihn aufzuheitern.
Ivo sah zu ihr auf und strahlte. »Cool, oder? Es hat Hydraulikbremsen und wiegt zwanzig Kilo.«
»Hat es auch Licht?«
»Logo, Oma! Vorne einen Halogenstrahler und hinten sogar Standlicht. Willst du mal fahren? Ist voll easy.«
Iska lachte. »Lieber nicht. Komm, ich helfe dir rein, der Regen wird stärker. Und ab jetzt denkst du an dein Handy!«
»Ehrenwort.«
Ivo stieg auf den Rolli um, der im Hausflur stand. Im Handumdrehen saßen sie bei Tee und Keksen in der warmen Küche.
Während er mit dem Gebäck krümelte, übte Ivo mit Moses apportieren. Seit seiner Erkrankung brachte er dem Hund bei, ihm Gegenstände zu bringen, die nützlich waren oder ihm in schwierigen Situationen helfen
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