Finkenmoor
Schluss gemacht. Einfach so.
Fünf Monate waren sie miteinander gegangen, er und das süßeste Mädchen der Schule. Seine Mutter wusste nichts von Anne-Lene, sie hatte Fragen gestellt, doch Ivo schaffte es, sein Geheimnis für sich zu behalten. Auch Anne-Lenes Eltern hatten keinen Schimmer.
Die Jungs aus seiner Klasse hatten ihn ausgelacht, weil er, wie sie sagten, mit einem Milchzahn ging.
Manchmal waren sie wirklich zu blöd.
Jedenfalls hatte er sich nicht beirren lassen, seinem Gefühl vertraut. Außerdem wurde Anne-Lene nächsten Monat dreizehn und, was noch viel wichtiger war, sie machte niemals, nicht ein einziges Mal, eine blöde Bemerkung über seine Querschnittlähmung. Worte wie Krüppel oder Spasti kamen nicht über ihre Lippen. Überhaupt hatte Anne-Lene ihm das Gefühl gegeben, ein ganz normaler Junge zu sein. In vielen Situationen spielten seine gelähmten Beine ja auch wirklich keine Rolle. Playstation, Musik hören, Chillen mit Freunden. Alles cool, alles kein Problem.
Manchmal hatte sie ihn in seinem alten Rollstuhl umhergeschoben oder auf seinem Schoß gesessen, während er Gas gab. Besonders schön hatte er es gefunden, wenn sie auf der Hinterachse stand, die Arme ausbreitete und ihre weiche Wange an sein Gesicht drückte. Wie Kate und Leonardo, hatte sie in sein Ohr geflüstert, und ihm war dabei ganz heiß geworden. »Titanic«, der Schmachtfetzen war in seinen Augen zwar Mädchenkram, aber diese Ansicht behielt Ivo für sich.
Letzten Monat hatte Anne-Lene ihn auf seine Armmuskeln angesprochen. Natürlich hinterließ das Rollifahren Spuren, und diesen Sommer war zum ersten Mal sichtbar geworden, wie sehr die regelmäßige Beanspruchung seinen Körper formte. Auch durch das Hockeyspielen bildeten sich die Muskeln immer mehr heraus. Anne-Lene hatte ihm einige Male zugeschaut, ihn beobachtet, wenn er über das Eis fegte. Er liebte Sledge-Hockey, träumte davon, bei den Paralympics für die deutsche Nationalmannschaft anzutreten. Die Chancen standen gar nicht schlecht, das meinte auch sein Trainer.
Ivo seufzte. Für Anne-Lene hatte er seine Panik überwunden und wieder eine Reithalle betreten, obwohl es ihn unglaubliche Überwindung gekostet hatte. Er war damals beim Ausreiten unglücklich gestürzt. Diagnose: Querschnittlähmung von der Hüfte abwärts. Aber Ivo wollte sich damit nicht abfinden. Er hielt sich an ärztliche Anweisungen, bekam mehrmals die Woche Physiotherapie und Massagen, Termine, die er ernst nahm und niemals versäumte. Und es zeigten sich erste Bewegungserfolge. Vor ein paar Wochen hatte er auf einmal seinen rechten dicken Zeh bewegen können. Kurz nur, aber seine Mutter hatte es auch gesehen, vor Freude geweint und ihm eine ganze Schüssel Karamellpudding gekocht, den er so liebte.
Dieser Erfolg spornte Ivo an. Jetzt nahm er seine Übungen noch ernster, trainierte verbissen, zu verbissen, wie seine Oma zu sagen pflegte. Aber er wollte es schaffen.
Hart trainierte er auch für seine Mutter, die sich mit der Versicherung des Gestüts um die Übernahme der Arztrechnungen stritt. Die gegnerische Partei wollte die Kosten nicht tragen, weil Ivo nicht beim regulären Training, sondern nach der Reitstunde gestürzt war, als er ohne Erlaubnis eigenmächtig Sprünge hinter den Ställen durchführte. Seitdem legte sich seine Mutter krumm und schuftete von morgens bis abends für einen ambulanten Pflegedienst. Schon früher war sie kaum nach Hause gekommen, doch nun übernahm sie Extraschichten und vermehrt Wochenenddienste, um den Anwalt und die zusätzlichen Rechnungen zahlen zu können. Außerdem wollte sie ihrem Sohn Wünsche erfüllen, die sein Leben erleichterten, wie zum Beispiel das neue Handbike.
Ivo plagten Schuldgefühle. Ihm brach es fast das Herz, wenn er seine Mutter nach Hause kommen sah. Müde, mit Rändern unter den Augen und extremen Rückenschmerzen, die sie vor ihm zu verbergen suchte. Aber Ivo wusste Bescheid. Er kannte den Ernst der Lage, hatte einen Brief von der Bank überflogen. Seine Mutter war mit den Ratenzahlungen im Rückstand. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, würden sie das Haus verlieren. Wahrscheinlich nähme Oma sie dann auf. Keine schlechte Sache, jedenfalls aus Ivos Sicht. Aber dem Wunsch seiner Mutter entsprach das nicht.
Der offene Kühlschrank begann zu brummen. Ivo warf den angebissenen Käse ins Gemüsefach, schlug die Tür zu, rollte in sein Zimmer, schaltete die Schreibtischlampe an und hievte sich mit Schuhen aufs Bett. Nick
Weitere Kostenlose Bücher