Finkenmoor
Menschen so vor, als würden sie geduldig zur Schlachtbank traben, sich arrangieren, mit den schrecklichen Verlusten abfinden. Jedem einzelnen Teilnehmer dieser Selbsthilfegruppe war das Herz herausgerissen worden. Alle hatten unvorstellbares Leid erfahren, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Aber sie schienen sich anzupassen, schlugen sich den Staub von den Schultern und gingen auf wackeligen Beinen vorwärts. Manche sprachen sogar davon, den Mördern zu verzeihen. Bereit zur Vergebung, allerdings mit ausdruckslosen Augen, tonlosen Stimmen und erstarrten Körpern, doch scheinbar gewillt, das Unmögliche zu leisten.
Unvorstellbar, jedenfalls für Anna.
Sie sah zu Otmar. Der fast Siebzigjährige rührte Zucker in seinen Kaffee und sprach mit der kleinen Dicken, deren Namen Anna vergessen hatte. Er knuffte sie in die Seite und warf den Kopf nach hinten. Wahrscheinlich gab er wieder einen seiner Witze zum Besten. Otmar war in seinem eigenen Haus überfallen und ausgeraubt worden. Dabei hatte einer der Täter seiner Frau ein Messer in die Rippen gestoßen. Sie war vor Otmars Augen verblutet. Die Mörder wurden nie gefasst. Otmar nahm sein Schicksal angeblich an und grübelte nicht darüber nach, warum gerade er so schreckliches Leid ertragen musste. Er gab den Clown, versuchte in allem einen heiteren Aspekt zu entdecken und brachte Anna damit auf die Palme.
Sie schielte zu Rosi, einer zierlichen Frau, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnte und immer ein silbernes Kreuz über dem Rollkragenpullover trug. Rosi suchte Trost im Glauben. Ihre Zwillingsschwester hatte ein Unbekannter ausgeraubt und brutal zusammengeschlagen. Auf dem Weg ins Krankenhaus erlag sie ihren Verletzungen. Wut auf den Mörder empfand Rosi angeblich nicht. Allerdings fielen ihr langsam die Haare aus. Von Woche zu Woche wurden die Locken lichter. Rosi interpretierte den Verlust ihrer geliebten Schwester als Prüfung Gottes und flüchtete sich in jeder freien Minute in ihre Kirche.
Natürlich flossen auch Tränen, und bei jeder Zusammenkunft schrie sich jemand die Verzweiflung aus dem Leib, aber am Ende gingen sie alle ruhig nach Hause.
Und das machte Anna wütend.
Sie war nicht gewillt, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Heute noch weniger als an dem Tag, als sie die Nachricht von Timms Tod in den Abgrund gestürzt hatte. Jetzt, so viele Jahre später, war von ihrem alten Leben kaum etwas geblieben. Georg und sie hatten sich getrennt, längst war sie aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen. Ein schwerer, wenn auch notwendiger Schritt.
Ihr wurde immer noch übel, wenn sie an ihren Exmann dachte. Sie empfand Wut und Enttäuschung, weil er sich als Schlappschwanz erwiesen hatte.
Es war, als habe ihr Mann nach Timms Beerdigung einen Schalter umgelegt. Georg war in Schweigen verfallen, blockte Gespräche über die entsetzliche Tat ab. Anfangs ließ Anna nicht locker, bei jeder Gelegenheit versuchte sie, mit ihm zu reden, hatte sich an die Hoffnung geklammert, dass ihre Ehe diese schwere Zeit überwinden konnte. Anna entwickelte Strategien, gewöhnte sich an, die Gefühlslage ihres Mannes genau zu beobachten, und lernte diese möglichst genau einzuschätzen. Um wichtige Themen anzusprechen, hatte sich meist das Wochenende angeboten. Wenn eine Arbeitswoche vorüber war und sie äußerlich entspannt beim Frühstück saßen, war Georg am zugänglichsten gewesen.
An einen Samstag erinnerte sie sich besonders. Dieser Tag hatte Anna klargemacht, dass sie etwas unternehmen, sich befreien musste.
Sie hatte Brötchen und die Tageszeitung geholt. Als sie sich am Frühstückstisch gegenübersaßen, Georg noch im Pyjama, jeder vertieft in seine Lieblingsseite, hatte sie nach vorsichtigen Formulierungen gesucht. Alles hing davon ab, dass sie die richtigen Worte fand, ansonsten brachte Georg es fertig und verließ einfach das Haus. Sie hatte sich geräuspert und sich dann in letzter Sekunde entschieden, ihre gesamte Planung über Bord zu werfen. Kein vorsichtiges Vortasten. Keine Kompromisse. Sie war es leid, sich ständig kontrollieren zu müssen. Im Nachhinein vielleicht ein Fehler.
»Ich möchte, dass wir uns professionelle Hilfe suchen.«
Ihr Mann sah nicht einmal auf.
»Georg! Ich rede mit dir.«
»Was ist?« Er blickte sie über die Zeitung fragend an. »Was hast du gesagt?«
Anna schluckte ihren aufkeimenden Zorn hinunter. Georg hatte sie genau verstanden. Er wollte Zeit gewinnen, stellte immer zuerst eine Gegenfrage, wenn er selbst etwas gefragt
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