Finkenmoor
Kallwitz, das Drecksschwein. Ihr machte er nichts vor. Seine Augen verrieten ihn. Sie standen eng beieinander, wie zwei kleine schwarze Löcher störten sie das gepflegte Erscheinungsbild des Mörders, hoben bei genauer Betrachtung seine geleckte Fassade auf. Jedenfalls für Anna. Wenn Kallwitz den Blick hob und die Anwesenden taxierte, was nur selten vorkam, stockte ihr jedes Mal der Atem. Seine Blicke waren seelenlos, vielleicht weil er niemals blinzelte, überhaupt nicht zuckte. Wie ein Hai. Anna starrte ihn unentwegt an, egal, wer gerade zu Wort kam, und jedes Detail seiner Erscheinung brannte sich ihr ein.
Dabei hatte sie immer wieder an Timms Martyrium denken müssen. Bei dem Gedanken, dass dieser Kerl ihren Jungen brutal missbraucht hatte, diese kalten Augen das Letzte gewesen waren, das Timm in dieser Welt gesehen hatte, wurde ihr kotzschlecht. Wenn sie sich das bewusst machte, hatte eine gehörige Portion Selbstbeherrschung dazugehört, nicht über den Tisch zu springen und Kallwitz die maskenhafte Visage zu zerkratzen. Und wenn sie dann am späten Nachmittag mit hängenden Schultern, schwer beladen mit den heftigsten Eindrücken nach Hause kam, hatte ihr Mann nichts von Kallwitz oder ihren Gefühlen wissen wollen.
Allein mit sich, erwartete Anna ein hartes Urteil, hoffte auf das höchste Strafmaß, das die deutsche Justiz hergab, und fieberte dem Richterspruch entgegen. Sie erwartete lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung. Mindestens. Denn schon früher war das Schwein wegen des Besitzes von kinderpornografischen Videos zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Und auch wenn Kallwitz in dieser Zeit nicht wieder straffällig geworden war oder, wie Anna eher vermutete, sich nicht hatte erwischen lassen, hatten aus ihrer Sicht sämtliche Kontrollinstanzen versagt. Sein Umfeld, die Justiz und auch der Vorstand des Vereins, in dem Timm dienstags und samstagmorgens gespielt hatte.
Nicht einmal ein polizeiliches Führungszeugnis hatten sich die Verantwortlichen von dem Aushilfstrainer vorlegen lassen, obwohl doch längst bekannt war, dass sich solche Perversen vornehmlich dort aufhielten, wo sie sich problemlos das Vertrauen ihrer Opfer erschleichen konnten. Timm hatte seinen Namen mehrmals erwähnt. Lustig fand er den Betreuer, mochte dessen Späße.
Rache. Das Wort hatte sich in Annas Herz gebrannt. Aber vielleicht würde sich nach der Urteilsverkündung auch ein Teil ihrer grenzenlosen Wut lösen. Und wenn nicht, würde sie sich auch ohne Georg darum kümmern, dass ihr Seelenfrieden einigermaßen ins Gleichgewicht kam.
Am Tag der Urteilsverkündung ließ Anna Kallwitz wieder nicht aus den Augen, sie wollte sehen, wie sich seine leblosen Augen mit Tränen füllten, wenn er das Strafmaß hörte.
Aber es war Anna, die laut aufschrie.
Zwölf Jahre. Mehr gab das deutsche Rechtssystem angeblich nicht her. Lebenslänglich kam nicht in Betracht, weil Kallwitz die vorsätzliche Tötung des Jungen nicht nachgewiesen werden konnte, obwohl sie für Anna auf der Hand lag. So konnte Kallwitz bei guter Führung, positiven Prognosen und Stellungnahmen nach acht Jahren entlassen werden. Lächerliche acht Jahre! Kallwitz, das perverse Schwein, hatte die Justiz auf seiner Seite, obwohl er Timm nicht nur vergewaltigt, sondern auch brutal geschlagen hatte. Die Absicht der Tötung hatte dabei angeblich nicht vorgelegen.
Kallwitz wollte Timm nach eigenen Angaben nur gefügig machen, er hatte den Jungen nicht absichtlich mit dem Hinterkopf auf den Baumstumpf geschlagen. Positiv wurde ihm zudem angerechnet, dass er die Polizei unmittelbar nach der Tat zum Tatort geführt hatte. Seine Bestrafung war ihm dabei angeblich völlig egal gewesen, denn er wollte, dass Timm gerettet wurde. So ein beschissener Lügner. Anna konnte nicht glauben, das Kallwitz mit dieser Version durchkam, die von den Sachverständigen gestützt wurde. Es war doch wirklich zu offensichtlich, dass der Mörder nur versuchte, seinen Arsch zu retten.
In dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten.
Doch das traf hier nicht zu! Welche Zweifel? Es gab keine Zweifel. Kallwitz war geständig, die Beweise niederschmetternd, Timm tot. Anna brach noch im Gerichtssaal zusammen. Sie verlor den Glauben an die Justiz und die Menschheit. Niemals hätte sie mit so einem milden Urteil gerechnet, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte dieser Mörder keinen einzigen Tag mehr als freier Mensch verbracht.
Das war ein Schlag, auch in Timms
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