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Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriane Angelowski
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wurde. Eine Taktik, die Anna unheimlich nervte.
    »Wir brauchen Unterstützung, Georg, damit wir mit der Situation besser klarkommen.«
    »Was brauchen wir?«
    »Georg!«
    Er legte die Zeitung ganz ruhig zur Seite. In den letzten Monaten war er gealtert. Das ehemals dunkelbraune Haar wurde an den Schläfen grau, unter den Augen zeichneten sich dunkle Ränder ab. Gewicht hatte er verloren, mindestens sieben Kilo, was ihn krankhaft hager aussehen ließ. Er wirkte wie in sich zusammengefallen, dabei wurde er in ein paar Wochen erst siebenunddreißig.
    Anna ließ nicht locker. »Viele Paare, die in unserer Situation sind, suchen sich Beistand. Das ist heutzutage nichts Besonderes.«
    »In unserer Situation?« Georgs Zornesfalte erschien auf der Stirn. »In was für einer Situation sind wir denn? Wir haben unseren Sohn verloren und beerdigt! Damit müssen wir einfach klarkommen. Ende der Geschichte. Was sollen wir da beim Therapeuten?«
    »Wir haben Timm nicht verloren!«, schrie sie. »Er wurde brutal ermordet, wir –«
    »Was macht das für einen Unterschied?«
    »Was das für einen Unterschied macht?« Anna schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte und suchte nach Worten. »Ich … Es macht einen irre großen Unterschied. Wir haben uns noch nie über diesen Tag unterhalten, ich weiß einfach nicht, was in dir vorgeht, und habe keine Ahnung, wohin ich mit meiner Wut soll.«
    »Geh ins Fitnessstudio, verdammt noch mal!« Georg sprang auf, drehte eine Runde um den Tisch, blieb direkt vor ihr stehen und holte tief Luft. »Natürlich ist es nicht leicht, aber wir werden keinen Trost finden! Niemals. Ich jedenfalls nicht! Und schon gar nicht bei einem Psychoheini, der unser Leid nur pseudomäßig nachvollziehen kann, dem es in Wahrheit nur darum geht, mit unserem Geld die Raten für sein Haus abzubezahlen.«
    Anna stieß ihren Stuhl weg. »Ach, geht es dir wieder einmal um das verdammte Geld? Hindert dich dein Geiz daran, uns Linderung zu verschaffen?«
    »Mein Geiz? Du spinnst doch. Auf das Niveau begebe ich mich erst gar nicht. Immer wenn du nicht mehr weiterweißt, kommst du mit der verdammten Kohle. Du glaubst gar nicht, wie satt ich das habe!«
    »Hör dir doch mal selbst zu. Hier kann und darf es nicht ums Geld gehen! Wir müssen aussprechen, was uns beschäftigt, sonst werden wir daran ersticken.«
    »Dann sprich dich doch aus. Lass raus, was in dir vorgeht. Schrei mir entgegen, dass ich schuld an Timms Tod bin, weil ich ihm erlaubt habe, ins Freibad zu gehen. Los, sag es endlich!« Er stand dicht vor ihr, spuckte ihr die Worte ins Gesicht.
    Eine Sekunde hatte Anna mit der Versuchung gekämpft. Ja, du bist schuld am schrecklichen Tod unseres wunderbaren Jungen! Schuld! Schuld! Schuld!
    Sie beherrschte sich nur mit Mühe. Es war ungerecht, Georg verantwortlich zu machen, das wusste Anna. Deshalb entschied sie sich, ihn einfach stehen zu lassen, lief zum Schlafzimmer hinauf und schlug die Tür hinter sich zu.
    Diese Situation hatte ihr wieder einmal vor Augen geführt, wie weit sie und Georg voneinander entfernt waren. Und sie hatte deutlich gespürt, dass sie Timms Tod nicht verwinden konnte, wenn sie an Georgs Seite blieb.
    An diesem Samstagmorgen war ihr zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass sie ihren Mann verlassen musste. Er verstand einfach nicht, warum sie nicht schweigen konnte, er fand es übertrieben, dass sie auf Timms Bett lag und versuchte, seinen Geruch einzuatmen. Und er schüttelte den Kopf darüber, dass sie zu den Mahlzeiten nach wie vor für ihn mitdeckte.
    Auch beim Prozess gegen Timms Mörder hatte er das Gegenteil von dem getan, was Anna erwartet hatte. Georg war den Verhandlungstagen vor Gericht ferngeblieben. Wieder fühlte sich Anna im Stich gelassen. Sie saß ohne Georg, mit Sonnenbrille und Kopftuch, als Nebenklägerin neben ihrer Rechtsanwältin und starrte Timms Mörder an.
    Kallwitz. Äußerlich wirkte das Schwein teilnahmslos. Nur flüchtig hatte Anna ihn nach den Trainings wahrgenommen, wenn sie Timm abholte. Wie ein Milchbubi sah er jetzt aus, in seinem grauen Anzug mit weißem Hemd und der Krawatte. Das dunkle wellige Haar nach hinten gekämmt, ebenmäßige Gesichtszüge, Typ freundlicher Nachbar, der im Hausflur höflich grüßt. Kein Monster, kein sabbernder Fettsack in Jogginghose. Vom Erscheinungsbild ein athletischer junger Mann, durchaus sympathisch, der bei den Kids ankam und Erwachsene einlullte. Und genau das machte ihn so gefährlich. Anna hätte schreien können.

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