Finkenmoor
wirklich, und ich denke, ich könnte der Menschheit eine Menge zurückgeben. Und Mutter, du hättest endlich einen Sohn mit akademischem Abschluss.
Na ja, mal sehen. Man muss sich darum bewerben, und nicht jeder erhält die Erlaubnis, an solchen Fortbildungsprogrammen teilzunehmen. Aber wenn sie es mir verwehren, das fände ich schon ziemlich heftig. Immerhin habe ich ja noch mein ganzes Leben vor mir, selbst wenn ich voll absitzen müsste. Ich werde einfach mal einen Antrag stellen. Jetzt, wo ich verurteilt bin, kann ich das Justizsystem voll nutzen, da gibt es einige Möglichkeiten, auch hier in Hannover. Ich habe nämlich auf die Dauer keine Lust, in der Schlosserei zu arbeiten, das ist gar nicht mein Ding. Aber Büttner meint, es macht sich gut, wenn ich nachgebe und mich füge, wegen der Verlegung und auch für später, wenn es um die vorzeitige Entlassung geht. Trotzdem nervt mich der Job an der Fräse, wenn ich doch wenigstens im Garten arbeiten könnte, da bin ich doch sozusagen Profi. Aber nein, es muss die verflixte Schlosserei sein. Reine Schikane, wenn du mich fragst! Aber ich werde meinen Mund halten.
Jetzt muss ich aufhören, gleich gibt es Abendessen. Es stört mich enorm, dass es immer so früh kommt. Wenn ich um achtzehn Uhr esse, habe ich ja um zweiundzwanzig Uhr wieder Hunger. Das ist ein kleines Beispiel dafür, wie fremdbestimmt mein Leben jetzt ist. Die meisten Menschen würden sagen, dass das fair ist, aber ich denke, kleine Freiräume könnte man uns schaffen, und zwar ohne großen Aufwand.
Na ja, ich versuche klarzukommen, hebe mir immer eine Kleinigkeit als Nachtmahl auf, ein Stück Käse oder einen Apfel. Ach, was gäbe ich für einen Löffel von deinem tollen Hühnersalat!!
Bis bald grüßt herzlich, euer Junge!
Debstedt
Die fünfunddreißig Kilometer von Cuxhaven nach Debstedt fuhr Iska meist sonntags. Manchmal begleitete Phyllis sie, heute war sie allein unterwegs.
Der Aufenthalt ihrer Tochter in der Seeparkklinik zog sich in die Länge, ob sie jemals wieder vollständig auf die Beine kommen würde, blieb fraglich. Iska ließ sie ungern in der Klinik, wollte sie zu Hause haben, aber die Ärzte rieten ab. Angeblich konnten Fortschritte, die sie gerade machte, in den eigenen vier Wänden stagnieren. Die Mediziner versicherten Iska, dass ihre Tochter auf die Verhaltenstherapie ansprach und auch auf das themenzentrierte Malen in der Gruppe positiv reagierte.
Iska konnte die Situation nicht einschätzen, kannte sich mit psychischen Erkrankungen nicht aus und stellte an ihrem Kind keine Veränderungen fest, Heilung schon gar nicht. Für sie war der Zustand äußerst besorgniserregend, und es brach ihr das Herz, sie so in sich gekehrt zu sehen.
Sie hatte sogar erwogen, nach Debstedt umzuziehen, aber die Ärzte rieten auch davon ab. Der Klinikalltag der Patienten war straff organisiert und ließ unter der Woche wenig Spielraum zur freien Gestaltung, überdies gab es Anwesenheitspflichten für verschiedene therapeutische Angebote. Partner oder Angehörige störten da eher, beanspruchten in der Regel zu viel Raum.
Zum Wohle ihres Kindes verabschiedete sich Iska von den Umzugsplänen und beschränkte sich weiter auf einen Besuchstag in der Woche. Die Sonntage ließ sie sich nicht nehmen, auch wenn der junge Oberarzt eine Bemerkung in die Richtung machte. »Vielleicht braucht Ihre Tochter einen radikalen Bruch.« So ein Unsinn. Iska hatte sich zusammenreißen müssen, um dem Schnösel, den sie auf Ende dreißig schätzte, nicht an die Gurgel zu gehen.
Sie ließ sich nicht beirren, und Phyllis bestärkte sie in all ihren Vorhaben. Sonntags packte Iska also ihre Tochter ins Auto und fuhr mit ihr meist an die Nordsee nach Wremen. Je nach Wetter verbrachten sie die Nachmittage mit Spaziergängen am Strand oder saßen in einem kleinen Café bei Trinkschokolade. Wenn Phyllis dabei war, lachten sie viel. Ansonsten teilte sich die Patientin kaum mit, und wenn, dann sprach sie ausnahmslos über die Therapeuten oder Mitpatienten. Das ist im Moment ihre Welt, beruhigte Phyllis ihre Schwester.
Iska versuchte, geduldig zu sein, auch wenn ihre Tochter, so wie heute, einfach versunken dasaß. Kakao und Kuchen hatte sie gierig zu sich genommen, und Iska machte Konversation, weil sie es kaum ertrug, wenn sie sich schweigend gegenübersaßen. Ivos Tod und die damit verbundenen Themen klammerte sie aber weitestgehend aus.
An diesem Nachmittag brachte Iska ihre Tochter spät zur Klinik zurück und half ihr
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