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Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriane Angelowski
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Gesicht.
    Nach dem Prozess war Anna in ein tiefes Loch gefallen. Auf Anraten ihrer Hausärztin hatte sie ein paar Wochen in einer Klinik verbracht und dort mit einer Psychotherapie begonnen, die sie anschließend ambulant fortsetzte. Mit professioneller Hilfe traute sie sich schließlich, der permanenten Konfrontation mit dem Verlust ihres Kindes wenigstens eine räumliche Veränderung entgegenzusetzen. Dieser für sie so wichtige Befreiungsschlag bedeutete allerdings das Ende ihrer Ehe, denn Georg wollte sich nicht bewegen, verstand ihren Wunsch nach Veränderung nicht. Er wollte das Haus nicht verlassen, in dem Timms Stimme nach wie vor wohnte und Anna um den Verstand brachte.
    Anna erkannte, dass sie gehen musste, wenn sie weiterleben wollte, und zog nach Cuxhaven. Darüber hinaus hatte ihr die Therapie den erhofften Seelenfrieden nicht gebracht. Aber sie war sich selbst ein kleines Stück näher gekommen, verstand es besser, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und sich zu positionieren. Sie konnte eher mal Nein sagen, wenn sie etwas nicht wollte, oder sich treiben lassen, einen ganzen Tag auf der Couch vertrödeln.
    Was ihre Wut und den Verlust ihres Jungen anging, fühlte sie heute jedoch noch den gleichen Schmerz wie damals. Nach wie vor deckte sie den Tisch für Timm mit und roch an seiner Wäsche, auch wenn sein Geruch sich längst verflüchtigt hatte.
    Immerhin funktionierte Anna von außen betrachtet wie ein Uhrwerk.
    Sie stand morgens zeitig auf, verschwand im Bad, bändigte die kurzen schwarzen Haare, streifte eine Bluse über und schlüpfte in knielange Röcke. Sie wirkte gefasst und zielstrebig, aber ihr Blick in den Spiegel blieb flüchtig.
    Anna sah Timm, wenn sie sich selbst betrachtete. Diese leicht schräg stehenden braunen Augen, die zierliche Nase, der breite Mund. Timm. Sein schneeweißer Sarg vermoderte längst in der Erde. Die wunderschönen Augen von Würmern gefressen, für immer verklungen seine abertausend Fragen, zu Ende gekämpft der Streit um mehr Taschengeld und vorbei der obligatorische Erdbeerbecher zum Sommerferienbeginn. Timm. Niemals konnte sie seinen grausamen Tod verwinden, diese Wunde heilte die Zeit nicht.
    Und niemand ahnte, dass Anna es nur mit eiserner Disziplin schaffte, die Fassade aufrechtzuerhalten. Tägliche Wiederholungen gaben ihr Halt. Pünktlich die Wohnung verlassen, eine Zeitung kaufen, sich einreihen in den Strom der Beschäftigten. Lesend und unscheinbar. Eine Frau mittleren Alters, nicht hässlich, nicht hübsch, die sich eher unauffällig durchs Leben zu bewegen schien. Anna Koranth, Angestellte einer Gebrauchtwagenfirma. Höflich. Hilfsbereit. Ein guter Mensch. So wirkte sie, und so wollte sie wahrgenommen werden.
    Oberflächlich betrachtet, hielt sich Anna tapfer, und die kleinen Anzeichen, die deutlich machten, dass sie seit Timms Tod ein wenig aus der Spur lief, schien niemand zu bemerken. Dieser Umstand wurde auch durch ihren Umzug nach Cuxhaven begünstigt, denn die sogenannte soziale Kontrolle gab es hier nicht. Zudem mied Anna jeden privaten Kontakt – so gab es keine Fragen und keine Regeln. Niemand wusste zum Beispiel, dass sie einen starken Glauben besessen hatte, und so konnte sich auch keiner darüber wundern, dass sie nicht mehr in die Kirche ging.
    Unter der Oberfläche brodelte es.
    Rache. Sie konnte an nichts anderes denken.
    Im Sommer würden sich die Tore für Kallwitz öffnen. Dann stand ihm der Weg in die Gesellschaft offen. Annas Anwältin hatte sie schon vor Monaten vorgewarnt. Angeblich verhielt sich das Arschloch im Knast vorbildlich, hatte sich therapieren lassen und heuchelte Mitgefühl mit seinem Opfer.
    Anna ließ sich nicht blenden.
    Kallwitz. Seinen Vornamen sprach sie nicht aus. Sie wollte keine, auch nicht die minimalste persönliche Beziehung zu dem Mann herstellen, der ihren Sohn ermordet hatte.
    Stattdessen trug sie Sachverhalte über ihn zusammen: Sein Vater war vor fünfzehn Jahren verstorben, die Mutter lebte in Lüdingworth, einem kleinen Ort bei Cuxhaven. Kallwitz: Einzelkind, Realschulabschluss, Kfz-Ausbildung abgebrochen. Versuchte sich als Krankenpflegehelfer, gab den Beruf aber wegen eines angeblichen Rückenleidens auf und jobbte bis zu seiner Verhaftung in einem Callcenter. Um an diese und weitere Informationen zu kommen, hatte Anna damals einen Privatdetektiv engagiert.
    Längst stand für sie fest, dass Kallwitz sterben musste. Sie wollte nachbessern, wo das deutsche Rechtssystem aus ihrer Sicht versagt

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