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Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriane Angelowski
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richten zu lassen.
    Die Gestalt baumelte an einem Seil von der Mitte des Querbalkens. Schwer, merkwürdig zusammengeklappt.
    Iska schrie, ließ den Wäschekorb fallen, ohne ihre Tochter aus den Augen zu lassen.
    Staubpartikel schwebten umher.
    Entschlossen machte Iska einen Satz nach vorn, stellte den umgefallenen Stuhl auf, stieg hinauf, umfasste die massigen Hüften ihres Kindes und versuchte, den Körper anzuheben.
    »Phyllis! Hilfe!«
    Zu ihrer Erleichterung stand ihre Schwester einen Augenblick später neben ihr. »Um Gottes willen!«
    »Komm auf den Stuhl«, rief Iska. »Du musst mir helfen, sie hochzuhalten!«
    Gemeinsam gelang es ihnen, dem Strick die Spannung zu nehmen.
    Iska rief nach Moses. Sekunden später schoss der Terrier um die Ecke und sprang bellend um die Stuhlbeine.
    »Moses, hol uns ein Messer!«, keuchte Iska. »Ein Messer, hörst du?«
    Der Hund lief bellend davon. Iska hoffte, dass sich der Westi an Ivos Befehl erinnern konnte.
    »Soll ich nicht lieber nach unten laufen?«, fragte Phyllis.
    »Du bleibst hier, sie ist zu schwer, ich kann sie allein nicht halten!«
    »Alles wird gut, mein Kind«, flüsterte Iska weinend. »Bitte, bitte, geh nicht. Lass mich nicht auch noch allein.«
    Als Moses mit dem alten Brotmesser im Maul erschien, gelang es Phyllis, ihre Nichte loszuschneiden. Jedoch schafften es die beiden Frauen nicht, den leblosen Körper hinunterzutragen.
    Weil sie ihr Handy so schnell nicht finden konnte, rannte Phyllis in die Diele und verständigte den Notarzt.
    Die Schwestern fuhren mit in die Klinik. Phyllis hielt Iska im Arm, ließ sie nicht los, streichelte ihr den Kopf und versorgte sie mit Kaffee. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie die erhoffte Nachricht erhielten, dass die Situation unter Kontrolle war.
    Iska schluchzte hemmungslos, Phyllis murmelte ein Gebet aus Dankbarkeit. Und beide wussten, dass die Patientin trotzdem nicht über den Berg war.
     
    Liebe Mutter,
    ich kann das Urteil nun akzeptieren. Ehrlich gesagt, nach der Ungewissheit in der U-Haft ist mir die Klarheit, die ich jetzt habe, lieber. Natürlich sind dreizehn Jahre lang, aber immerhin hat das Gericht erkannt, dass ich nicht morden wollte, das muss doch auch für euch entlastend sein. Und wer weiß, vielleicht komme ich ja schon raus, wenn ich zwei Drittel der Strafe abgesessen habe. Rechtsanwalt Büttner macht mir jedenfalls dahingehend Hoffnung.
    Nein, es war nicht belastend, dass die Familien der Kinder im Gerichtssaal anwesend waren. Natürlich ist es nicht schön, ihnen gegenüberzusitzen, weil sie in mir nicht den Menschen sehen, sondern wahrscheinlich eine Bestie. Aber ich weiß ja, dass ich das nicht bin, und du weißt es auch. Die Leute verstehen einfach nicht, wie die Dinge gelaufen sind.
    Ja, ich habe gesehen, wie die Angehörigen bei der Urteilsverkündung zusammengezuckt sind. Anscheinend hatten sie mehr erwartet. Das kann ich einerseits verstehen, aber andererseits sollten sie bedenken, dass mir das Leben in der Gesellschaft für lange Zeit verwehrt bleibt. Ich kann keine Spaziergänge machen, nicht verreisen, zur Arbeit gehen oder tun, wonach mir sonst ist. Natürlich ist das irgendwie richtig, denn durch mich ist ein Kind gestorben, aber immerhin war es ja keine Absicht. Vielleicht verstehen sie das ja irgendwann. Mal sehen, vielleicht schreibe ich den Leuten einen Brief. Und am besten lasse ich jetzt das Thema, da rege ich mich nur wieder auf, das merke ich schon.
    Die Bibel braucht ihr mir nicht zu schicken, die bekomme ich auch hier. Über Süßigkeiten würde ich mich freuen, eine Lakritztüte wäre super. Das ist etwas, was ich jetzt schon vermisse, einfach losgehen und Süßes holen.
    Lingen oder Oldenburg, in eine der beiden JVAs werde ich mit etwas Glück verlegt. Die Gefängnisverwaltung nimmt Büttners Beschwerden hoffentlich ernst. Die Bedrohungen gegen mich nehmen nämlich zu. Die meisten Insassen sind unheimlich einfältig. Für die bin ich ein Kindermörder, egal, wie es wirklich war, egal, wie das Gericht urteilte. Also drückt mir die Daumen, dass ich aus dem Massenbetrieb hier rauskomme. Lingen wäre super, dann müsst ihr nicht so weit fahren.
    Ich habe übrigens einen Antrag auf Weiterbildung gestellt. Vielleicht kann ich hier drinnen das Abitur nachholen. Da gibt es so ein Fernstudium, das machen viele Leute, auch wenn sie nicht in der JVA einsitzen. Ich könnte Psychologie studieren. Psychologe Ronald Dallinger, wie hört sich das an? Das Fach interessiert mich

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