Finkenmoor
legt sie dann Blumen an einer Bushaltestelle in Döse nieder?«
Betty hob die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Ist da mal ein Verbrechen geschehen?«
Betty schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«
»Und hat diese Iska Bade noch Familie?«
»Ja, Norma, ihre Tochter. Und eine Schwester.«
Anna strich den kleinen gelben Läufer glatt, der über der grünen Tischdecke lag.
»Bei manchen Menschen muss man sich wirklich fragen, warum sie so viel Leid ertragen müssen«, flüsterte Betty. »Gerade Iska ist ein herzensguter Mensch, zeitlebens hat sie sich in der Gemeinde engagiert. Jetzt lebt sie völlig zurückgezogen. Besonders tragisch ist, dass ihre Schwester Phyllis …«
»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!« Der Chef schlug mit einer Gabel an sein Glas.
»Später«, flüsterte Betty.
Anna nippte an ihrer Apfelschorle, versuchte sich mit mäßigem Erfolg auf die Worte des Chefs zu konzentrieren. Als dann endlich das Essen serviert wurde, aß sie das Schnitzel lustlos.
Betty flirtete den restlichen Abend mit dem Neuen aus dem Verkauf. Angeblich stand er auf ältere Frauen. Anna wollte Betty nicht stören, doch Iska Bades Schicksal ging ihr nicht aus dem Kopf, und sie fragte sich, wie diese Frau es überhaupt schaffte, jeden Morgen aufzustehen.
Cuxhaven-Grimmershörn
Anna hatte sich auf eine Tötungsform festgelegt. Sie wollte den Mörder ihres Sohnes überfahren. Im ersten Moment ein erschreckender Gedanke, aber sie hielt die Methode für durchführbar. Online bestellte sie »Saga Rally«, ein Off-Road-Rennfahrer-Thrill-Spiel, und verbrachte jede freie Minute hinter der Konsole. Anna glaubte daran, dass sich durch solche Spiele Reaktionsvermögen und eine gewisse Form von Abgestumpftheit hervorragend trainieren ließen.
Und dies bestätigte sich in der Praxis. Anfangs fuhr Anna zögerlich, wich Konfrontationen aus. Aber nach und nach drückte sie das virtuelle Gaspedal voll durch, führte Karambolagen herbei und zuckte nicht mehr zusammen, auch nicht beim heftigsten Aufprall.
Sie stellte sich Kallwitz vor. In jedem Rennen war er ihr Gegner. Sie raste los, fluchte lauthals, erkannte sich selbst kaum wieder und brauchte einige Zeit, bis sie aufhörte, sich dafür zu schämen oder zu maßregeln. Nach und nach verlor der Gedanke, Kallwitz zu töten, für Anna seinen Schrecken. Trotzdem wusste sie, dass die Simulation an der Playstation nicht als Vorbereitung reichte.
Schwarz gekleidet und mit Handschuhen entwendete sie deshalb an einem regnerischen Sonntagabend einen Ford-Focus aus der Firma, in der sie arbeitete, fuhr damit zu ihrer Garage. Sie hängte den gemieteten Anhänger an das Fahrzeug und raste über die L 135 in die Nähe von Midlum. Das Waldstück, an dem sie schließlich hielt, lag verlassen. Von hier führte eine gerade Schotterpiste ebenerdig durch zwei riesige Felder.
Anna parkte, hievte im Licht der Scheinwerfer sechs Strohballen aus dem Hänger und stapelte sie aufeinander. Zusammen ergaben sie eine Höhe von über einem Meter siebzig. Dann setzte sie sich hinter das Steuer, fuhr einen knappen Kilometer zurück und wendete.
Es war eine Sache, zu Hause an der Spielkonsole Crashs herbeizuführen. Eine ganz andere Geschichte war es aber mit Sicherheit, Gas zu geben und real auf etwas zuzuhalten.
Der Weg lag im Scheinwerferlicht vor ihr.
Anna ließ den Motor aufheulen, drückte das Gaspedal durch, jagte die Schaltung in den dritten Gang und fuhr mit Vollgas auf den Strohballenstapel zu. Sie verriss das Steuer nicht, aber die Heftigkeit des Aufpralls überraschte sie. Der Airbag wurde ausgelöst und schlug ihr mit voller Wucht gegen die Stirn. Sie schrie, schaffte es zu bremsen und sah, wie die Strohquader zur Seite kippten.
Minutenlang saß Anna regungslos, bis sie schließlich aussteigen konnte. Mit wackeligen Beinen ging sie um das Fahrzeug, inspizierte Schrammen und Dellen. Den Schaden schätzte sie gering ein. Anna war stolz. Sie hatte ihren Plan durchgezogen, draufgehalten bis zum Aufprall, Mumm bewiesen.
Sie ließ die Strohballen liegen, fuhr zurück zur L 135, stellte den Anhänger in ihre Garage, parkte den Wagen auf dem Firmengelände, reinigte ihn im Innenraum von eventuellen Spuren und lief nach Hause. Erst jetzt bemerkte sie die Platzwunde am Mund und tupfte Blut von ihren Lippen.
Natürlich gab es am nächsten Tag Rätselraten um den Focus, der mit eingedrücktem Kotflügel und Stroh an der Stoßstange im Parkraum stand. Aber Anna wurde mit dieser Sache nicht
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