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Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriane Angelowski
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Anna etwas aus, das sie anzog, und sie spürte, wie gut ihr die Nähe tat. Zum anderen stieß sie etwas ab, aber Iska konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was es war. Vielleicht Annas Wut, die Wucht des Zorns, der manchmal aus ihr herausbrach.
    Verstehen konnte Iska die Aggression ihrer neuen Freundin. Sie wusste, wovon sie sprach. Immerhin kannte sie Gefühle wie Hass. Der schreckliche Tod ihres Enkels hatte sie an die Grenze dessen gebracht, was sie ertragen konnte. Aber Dallinger war rechtmäßig verurteilt, saß in Hannover ein und würde dort noch eine Weile bleiben.
    Dreizehn Jahre hatte er bekommen.
    Ein erstaunlich mildes Urteil, auch für Iskas Empfinden. Sie als nahe Angehörige fand sich mit ihrer Wut und Trauer darin nicht wieder, fühlte sich ungerecht behandelt, nicht ernst genommen. Dallinger hockte die Zeit ab, höchstwahrscheinlich nicht einmal bis zum Schluss, und konnte danach sein Leben weiterführen. Sie, die Familie, litten, schlugen sich mit Trauer, Schuldgefühlen und deren Folgen herum. Lebenslänglich.
    Ihre Tochter Norma empfand das Leben als Last, Phyllis quälte sich ebenfalls, und auch die Familie der kleinen Maxi hatte mit massiven Problemen zu kämpfen. Seit dem Prozess stand Iska in lockerem Kontakt mit dem Vater des Mädchens. Niemals würde sie Johann Bernsens Gesicht vergessen, als sie ihm damals die kleine Walze übergab, die man in Ivos Hosentasche gefunden hatte. Auf die Knie war er gesunken und hatte Iska unglaublich leidgetan. Die Leittragenden waren die Angehörigen. Insofern hatte Anna recht.
    Kühle Abendluft wehte durch das weit geöffnete Fenster. Iska atmete tief ein, schloss die Augen und lauschte einer frühen Aufnahme von Montserrat Caballé. »Carmen« gehörte zu Iskas Lieblingsopern, und sie spürte auf einmal, was sie die letzten Jahre schmerzlich vermisst hatte. Musik. In all der Trauer um Friedrich, Ivo und durch die Sorge um ihre Tochter war sie von regelmäßigen Opernbesuchen weggekommen, und sie spielte auch nicht mehr die alten Schallplatten. Iska nahm sich vor, gleich morgen den Plattenspieler zu entstauben.
    Als Anna mit Espressotassen ins Esszimmer zurückkam, fühlte sich Iska ausgeruhter.
    »Hast du jemals darüber nachgedacht, den Tod deines Enkels zu rächen?«, fragte Anna ziemlich unvermittelt und rührte Zucker in ihren Kaffee.
    Iska sah überrascht auf. »Rächen? Wie meinst du das?«
    »So wie zum Beispiel Frau Bachmeier.« Anna klang ruhig. »Du kennst doch den Fall. Sie hat den Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal erschossen. Das ging damals um die Welt.«
    »Natürlich, davon kann sich niemand freimachen. Ivo hatte schließlich noch sein ganzes Leben vor sich.«
    »Timm auch, er war so ein tolles Kind, und wenn ich daran denke, was er erleiden musste, werde ich einfach immer noch wütend! Es geht nicht weg, weißt du. Seine Welt bestand aus Fußball, Radfahren und Modellflugzeugen. Er wusste nichts von den perversen Phantasien solcher Dreckschweine, wie Kallwitz eins ist. Timm war völlig ahnungslos.«
    »Das ist schwer zu ertragen«, sagte Iska. »Aber was sollen wir machen? Ich muss Ivos Tod akzeptieren, sonst werde ich verrückt. Und meine Tochter … sie …« Iska verschränkte die Arme vor ihrem Bauch. Sie fror.
    »Was ist mit ihr? Wie verkraftet sie den Verlust?«
    Iska suchte nach Worten. »Sie ist … sie hat … Es fällt mir schwer, über sie zu sprechen.«
    Anna schaute Iska an, forschte unaufdringlich in ihrem Gesicht.
    »Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen.« Iska leerte ihre Espressotasse und versuchte schon wieder zu lächeln. »Angeblich hat sie sich nach einem längeren Klinikaufenthalt stabilisiert, sie lebt jetzt in einer kleinen Wohnung hier in der Nähe. Aber wir haben im Moment kaum Kontakt. Es ist, als ob sie mich nicht erträgt. Ich weiß nicht, warum.«
    »So viel Leid überall«, sagte Anna.
    »Das stimmt. Aber letztlich können wir uns nur in unsere Schicksale fügen. Weitergehen, versuchen zu leben.«
    »Das sehe ich völlig anders.«
    »Wie denn? Du kannst deinen Jungen rächen, natürlich, aber willst du dann den Rest deines Lebens im Gefängnis sitzen?«
    »Lebenslänglich habe ich sowieso«, sagte Anna leise.
    »Mag sein.« Iska zuckte mit den Schultern. »Außerdem, nur mal theoretisch, wie würdest du Kallwitz zur Strecke bringen? Stell dir Mord nicht so einfach vor. Oder würdest du einen Auftragskiller engagieren?« Iska lächelte. »Falls du mal Bedarf hast – alte Freunde meines ersten Mannes

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