Finkenmoor
hatte. Über die Tötungsform war sie sich allerdings noch nicht abschließend im Klaren.
Die Schlange vor dem Kaffeeautomaten hatte sich aufgelöst, die Pause war beendet, und die Mitglieder der Selbsthilfegruppe nahmen ihre Plätze ein. Anna beobachtete die Anwesenden. Zehn Erwachsene saßen im Kreis. Alle konzentrierten sich jetzt auf Harald, der heute zum ersten Mal über seinen Alptraum sprach.
Anna hörte kaum hin. Sie überlegte, ob sich irgendjemand in diesem Raum ebenfalls mit Vergeltungsgedanken beschäftigte. Wirkte es vielleicht nur so, dass sie sich mit ihrem Leid abfanden? Schließlich spielte sie auch eine Rolle, fügte auch sie sich nur scheinbar in ihr Schicksal. Ging der eine oder die andere nach Hause und brütete ebenfalls über den ganz persönlichen Rachefeldzug? Anna betrachtete jeden Teilnehmer aufmerksam, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass in dieser Runde ein Verbündeter saß.
Cuxhaven-Döse
Anna Koranth hob ihre Besorgungen aus dem Einkaufswagen und verstaute sie im Kofferraum des Autos. Sie verließ den Aldiparkplatz, hielt beim Bäcker und lenkte den Wagen kurz bei ihrem Allgemeinmediziner auf dem Vogelsand vorbei.
Als sie danach an der Bushaltestelle »Kugelbake« vorbeifuhr, fiel ihr die Frau wieder auf. Häufig und zu ganz unterschiedlichen Zeiten stellte sie, immer begleitet von einem jungen süßen Terrier, Grabkerzen unter die Aufhängung des Fahrplans oder legte Blumen unter den Plastiksitz in der Ecke. Den Bus nahm sie nie. Anna hatte sie beobachtet. Auch jetzt lehnte sie am durchsichtigen Windschutz und ignorierte die offene Tür der Buslinie. Dabei wirkte sie unbeeindruckt von dem Treiben ringsherum.
Anna hielt vor der gegenüberliegenden »Seepark Residenz«, schaltete den Motor aus und betrachtete die Frau auf der anderen Straßenseite eindringlicher. Sie mochte Mitte sechzig sein, älter nicht. Auf den ersten Blick wirkte sie robust, wie ein Mensch, den nichts so leicht aus der Bahn werfen konnte. Groß, kräftig, sonnengegerbtes Gesicht. Ihre Hände steckten tief in den Taschen einer wetterfesten Tweedjacke. Anna verspürte den Wunsch auszusteigen, um sie anzusprechen. Das Schicksal dieser Frau interessierte sie. Für Anna war es offensichtlich, dass sie an dieser Stelle einen geliebten Menschen verloren hatte.
Doch sie blieb sitzen. Es war nach sechs, sie musste nach Hause, sich umziehen. Ihr Chef gab ein Essen für die Mitarbeiter, weil die Firma ein kräftiges Plus verzeichnete. Anna hatte erfolglos versucht, sich davor zu drücken. Aber ihre Anwesenheit wurde ausdrücklich gewünscht. Sie warf der Frau an der Bushaltestelle einen letzten Blick zu, startete den Motor und nahm sich vor, einen der alteingesessenen Kollegen nach einem Gewaltverbrechen oder einem Unfall zu befragen, der sich an dieser Haltestelle abgespielt haben könnte.
Cuxhaven-Sahlenburg
Als sie zwei Stunden später beim Firmenessen in den Nordheimterrassen in Sahlenburg saß, war es wider Erwarten eine nette Runde. Das rustikale Ambiente des Hauses war ganz nach Annas Geschmack, sie bestaunte die vielen Puppen auf den Fensterbänken und freute sich, dass die Flammen in dem gusseisernen Ofen ordentlich loderten. Nach einem Blick in die Speisekarte entschied sie sich für ein Jägerschnitzel.
Während die Wirtin die Getränke brachte, kam Anna mit Betty aus der Buchhaltung ins Gespräch, eine patente Frau, die kurz vor ihrer Pensionierung stand. Die Seele des Betriebs, pflegte der Chef mindestens einmal täglich zu sagen und betonte gern, dass der Laden den Bach runtergehen würde, wenn Betty den wohlverdienten Ruhestand antrat. Nach einigen belanglosen Sätzen wanderte Annas Blick von Bettys pinken Fingernägeln zu ihrem passenden Lippenstift.
»Kann ich dich etwas fragen?«
»Natürlich, schieß los.«
Anna erzählte von ihren Beobachtungen mit der Frau und dem kleinen Terrier an der Bushaltestelle.
Betty legte augenblicklich die Gabel beiseite. »Das ist Iska Bade. Ihr Enkel wurde umgebracht.«
»Wirklich?«
»Ja, ganz schlimm!« Betty stocherte in ihrem Salat herum, der Appetit schien ihr vergangen zu sein. »Der Junge wurde gefangen gehalten und ermordet. Zu seiner Beerdigung kamen über dreihundert Menschen. Arme Iska.« Betty beugte sich zu Anna vor und erzählte ihr flüsternd die grausigen Details, die damals die Runde gemacht hatten.
»Demnach wurde er also im Wernerwald getötet«, sagte Anna.
Betty pickte einige Maiskörner auf. »Ja.«
»Und warum
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