Finkenmoor
behelligt. Lediglich Betty sprach sie auf die Wunde in ihrem Gesicht an, gab sich aber natürlich mit einer fadenscheinigen Erklärung zufrieden.
Anna fühlte sich gut, selbstsicherer und motivierter als jemals zuvor. Das Gefängnistor konnte sich ruhig für Kallwitz öffnen. Und wenn es so weit war, wollte Anna fit sein, mental und physisch, dazu stachelte sie sich an.
An den Wochenenden joggte sie nun regelmäßig. Sie bildete sich ein, dass eine gute Kondition nicht schaden konnte. Rennfahrer gingen schließlich auch ins Fitnessstudio.
An einem wunderbaren Frühlingsmorgen lief Anna auf dem Döser Deichweg Richtung Kugelbake am Meer entlang. Ebbe. Die Luft war klar und die Sicht gut. Am Grünstrand standen Strandkörbe in Reihen, bereit für den Ansturm des Tages. Einige Läufer überholten Anna, andere kamen ihr entgegen. Anna joggte auf dem schmalen Asphaltweg, begleitet vom ewigen Geschrei der Möwen, ließ das Wahrzeichen von Cuxhaven rechts liegen.
Sie lief in gleichbleibendem Tempo bis Döse, dann auf dem Deich vorbei an Promenade und dem Ahoi-Bad in Duhnen. Weit draußen im Meer konnte sie deutlich die Umrisse der Insel Neuwerk mit dem markanten Leuchtturm erkennen und kämpfte hinter den Häusern am Deichweg mit der leichten Steigung. Schnell kam das einzige Hochhaus Sahlenburgs in Sicht. Anna lief weiter, an der Statue des Wattkiekers vorbei bis zum Surferstrand. Dort drehte sie um und machte sich auf den Heimweg. Anna freute sich auf Kaffee, Toast und Rührei.
Sie erkannte Iska Bade sofort. In der Hand hielt sie einen Strauß roter Rosen, der weiße Terrier lief neben ihr. Anna rannte an ihr vorbei, widerstand dem Impuls, sie anzusprechen, und ärgerte sich nach wenigen Metern darüber. Am Wattwagenabfahrtplatz blieb sie stehen, überlegte kurz und lief zurück. Aber Iska und ihr Hund waren nicht mehr zu sehen. Anna lief, bis der Trampelpfad zum Finkenmoor sichtbar wurde, und sah Iska, bevor sie mit hängenden Schultern im Wernerwald verschwand.
Anna folgte ihr, hielt aber gebührenden Abstand.
Iska ging am Finkenmoor vorbei, lief durch den Wernerwald, auf den ersten Blick planlos, aber Anna vermutete, dass sie ihr Ziel fest im Blick hatte. Nach zwanzig Minuten tauchte ein Blockhaus auf. Anna blieb hinter einer Tanne stehen, sah, wie sich Iska Bade verwitterte Stufen hochschleppte und die Blumen auf der Türschwelle ablegte. Dort verweilte sie, während der Hund umherstromerte.
Anna gab ihre Deckung auf, als sich Iska Bade wieder auf den Rückweg machte, und sprach sie an.
***
Der Rotwein stieg Iska sofort zu Kopf, obwohl sie langsam trank und reichlich gegessen hatte. Anna war eine exzellente Köchin. Iska konnte sich nicht erinnern, jemals einen so guten Lammrücken zu sich genommen zu haben.
»Das war ausgezeichnet«, sagte sie und lehnte sich zurück, während sich ihre Gastgeberin erhob.
Sofort stellte Iska die benutzten Teller zusammen und wollte ebenfalls aufstehen, aber Anna nahm ihr das schmutzige Geschirr ab. »Bleib sitzen, genieß den Wein und Montserrat Caballé. Ich finde, niemand singt Bizets ›Habanera‹ besser!«
Das ließ sich Iska nicht zweimal sagen, sie konnte eine kurze Verschnaufpause gebrauchen. Die Gespräche mit Anna forderten sie. Seit sie sich vor einigen Wochen im Wernerwald begegnet waren, trafen sie sich mindestens einmal die Woche. Ihre Unterhaltungen drehten sich meist um Annas ermordeten Sohn.
Dabei hielt Anna ihre Emotionen nicht zurück. Die Trauer um den Jungen war allgegenwärtig. In der Wohnung gab es ein Zimmer, in dem sie Timms Sachen aufbewahrte. An der Kühlschranktür hingen zwei seiner Kinderzeichnungen, und an jeder Wand des Wohnzimmers lachte er von Fotos. Iska wunderte sich über die starke Präsenz des Kindes, sprach Anna aber nicht darauf an. Jeder hatte das Recht, seinen Verlust auf eigene Weise zu verarbeiten.
Anna ging offensiv mit ihrem Schicksal um. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Wald hatte sich die Unterhaltung durch eine Tiefe ausgezeichnet, die Iska niemals zuvor so intensiv erlebt hatte. Und es tat gut, Floskeln und Small Talk beiseitezulassen. Aber sie spürte auch Annas Zorn, ihre Wut auf den Mörder, die Polizei, auf die Verantwortlichen des Fußballvereins, ihren Exmann und die Justiz im Allgemeinen. »Ich könnte eine Bombe in das Haus des Richters werfen«, hatte Anna gestern am Telefon gesagt.
Solche Aussprüche schreckten Iska ab. Doch ehrlich gesagt, fühlte sie sich hin- und hergerissen. Zum einen ging von
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