Finkenmoor
und systematisch die »Cuxhavener Nachrichten« studierte. Hin und wieder las sie ihm Artikel vor, völlig vertieft in Inhalte stellte sie eine Frage und registrierte erst, wenn sie keine Antwort erhielt, dass sie allein war.
Immer wieder fragte sich Iska, wie sie weitermachen sollte. Routine, das war die Antwort. Gewohnheit. Gleichklang.
Sie blätterte die Zeitung durch. Anna Koranths Todesanzeige überraschte sie völlig. Für einen Moment stockte Iska der Atem, dann schrie sie so laut auf, dass Moses aus dem Körbchen sprang und aufgeregt bellte. Iskas Blutdruck schnellte in die Höhe.
Gleichzeitig schrillte das Telefon.
Iska zuckte zusammen. Penetrant übertönte der Klingelton das Gebell des Westis, er beruhigte sich nicht. Iska wollte aufstehen, den Hörer abnehmen, aber ihre Beine gehorchten nicht.
Das Klingeln erstarb.
Der Hund winselte, und Iska blieb regungslos sitzen, bis es zu dämmern begann. Erst am späten Abend ließ sie den Westi in den Garten, ging ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Ohne sich auszuziehen, ohne sich weiter um den Hund zu kümmern, schlief sie ein.
Sie träumte von den drei Schwestern. Monsterwellen, die alles mit sich fortrissen. Zusammen mit ihrer Tochter, Ivo und Friedrich schaukelte sie in einem einfachen Ruderboot auf offener See.
Wie aus dem Nichts kam Wind auf. Anthrazitfarbene Gewitterwolken hingen am Himmel. Gleichzeitig entstand eine meterhohe Wellenwand. Iska sah, wie sie sich auftürmte und auf sie zukam. Ihre Fingernägel bohrten sich in das Holz der Schiffsplanken. Ivo und seine Mutter schrien, klammerten sich aneinander. Friedrich fand keinen Halt. Iska versuchte, ihn zu erreichen. Vergeblich. Er stürzte in die tosende See. Es blieb keine Zeit, nach ihm zu suchen. Eine zweite Woge schraubte sich empor. Größer, bedrohlicher als die erste. Sie griff nach dem Boot, schob es steil nach oben in die Wellenkrone.
»Wenn das Monster bricht, werden wir kentern«, brüllte Iska.
Gischt peitschte ihr ins Gesicht. Sie sah Panik in den Augen ihres Enkels. Er kreischte, rutschte, versuchte sich verzweifelt festzuhalten, während die Nussschale den Wellenrand erklomm, um dann mit irrsinniger Geschwindigkeit ins Tal zu stürzen.
Als das Boot auf die tiefste Stelle schlug, fehlte Ivo.
Iska wirbelte herum, schrie sich die Seele aus dem Leib, während sich nun die dritte, gigantischste Welle erhob und auf das kleine Boot anrollte. Iska starrte ihr fassungslos entgegen, wohl wissend, dass sie dieser Naturgewalt nichts entgegensetzen konnte. Iska warf sich über ihre Tochter.
»Sie bekommst du nicht! Niemals!«
»Dann unternimm endlich etwas«, schrie eine Stimme, schrill, laut, unbequem. Iska blickte auf und sah Anna Koranth. Das Konterfei ihrer Freundin tanzte auf der mächtigen Wasserwand, die auf Iska und ihre Tochter zuraste.
Liebe Mutter,
nur ganz kurz: Es hat geklappt. Ich werde endlich verlegt! Ist das nicht großartig, nach so einer langen Wartezeit? Meine und eure Gebete wurden erhört!! Vielleicht ist es auch kein zu großes Wunder, Hannover ist nun mal ein sogenannter Drehscheiben-Knast. Von hier werden Gefangene nach ihrer Verurteilung auf die einzelnen Gefängnisse in ganz Niedersachsen verteilt, aber immerhin bleiben auch viele Jungs hier hängen. Doch ich habe Glück, auch wenn ich ewig warten musste!! Ich bin so froh, vor allem weil Büttner mir gesagt hat, dass ich, sollte ich nach Lingen kommen, wahrscheinlich einer Einzelzelle zugeteilt werde. Endlich bekomme ich meinen Rückzugsraum, meine Privatsphäre. Nichts gegen Andy, aber es nervt schon, wenn dir ständig jemand auf der Pelle sitzt.
Ich bin völlig aus dem Häuschen!! Ja, Mutter. Das Schicksal mischte die Karten, aber ich spiele das Spiel! Jetzt wird alles gut.
Es grüßt euphorisch, euer Junge!
PS: Ich habe schon sieben Kilo abgenommen.
Cuxhaven-Döse
Die rege Anteilnahme bei Annas Beerdigung überraschte Iska. Die Holzbänke von St. Gertrud waren dicht besetzt. Iska blieb in der letzten Reihe sitzen. Der Pfarrer sprach von Anna Koranths tragischem Ende, aus dem Leben gerissen durch einen schrecklichen Verkehrsunfall. Nach den bewegenden Worten erklang Montserrat Caballé, offenbar hatte der Pfarrer Instruktionen erhalten. Als die Arie endete, schulterten Träger den schweren Eichensarg durch den Mittelgang ins Freie.
Mit hängenden Schultern erhob sich ein Mann aus der ersten Reihe und schritt ebenfalls nach draußen, den verschlossenen Blick starr auf den Steinboden
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