Finkenmoor
stand auf, ging in die Diele, nahm den Zettel aus seiner Jacke und verbrannte ihn über der Spüle. Die Telefonnummer, unter der Interessierte anrufen konnten, kannte er auswendig.
Spuren vermeiden, nicht wieder die gleichen Fehler machen, geduldig auf den richtigen Zeitpunkt warten, darauf kam es an. Durch seine Verurteilungen hatte er dazugelernt.
Cuxhaven
In den ersten Wochen nach Kallwitz’ Entlassung bezog Anna Posten in Sichtweite des Restaurants »Storchennest« in Altenwalde. Stundenlang saß sie bei Kaffee und belegten Broten im Auto vor dem Haus, in dem der Mörder ihres Sohnes wohnte, und ließ es nicht aus den Augen.
Für diese Phase ihres Plans hatte sie ihren gesamten Jahresurlaub genommen.
Schon nach ein paar Tagen konnte Anna ein Bewegungsprofil erstellen: In der Regel ließ sich das Schwein zweimal am Tag auf der Straße blicken. Morgens schlenderte er gegen acht Uhr zum Nettomarkt und holte Brötchen. So um fünfzehn Uhr drehte er dann eine Runde durchs Feld. Die restliche Zeit verschwand er von der Bildfläche, verließ das Haus kaum. Ab und zu kam eine ältere Frau zu Besuch, wahrscheinlich seine Mutter, die ihm Tüten mit Lebensmitteln ins Haus schleppte. Anna war ihr gefolgt. Sie wohnte in Lüdingworth, sieben Kilometer von Kallwitz’ Wohnung entfernt.
Jeden Sonntag schwang sich das Schwein gegen neun Uhr morgens auf ein klappriges Rad und fuhr zu seiner Mutter, blieb bis mittags und radelte zurück. Sonntags um diese Uhrzeit war wenig Verkehr. Idyllisch schlängelte sich die Landstraße durch die Heide. Kallwitz nahm nie den Radweg, sondern immer die Straße. Anna entschied, Timms Mörder hinter der Kurve nach dem »Café Schwein« mit Vollgas zu überfahren. Es schien ihr die geeignetste Stelle. Keine Häuser, ein gerades Stück Asphalt zwischen Wiesen und Feldern.
Nachdem sie alle Details des Geschehens festgelegt hatte, konnte Anna es kaum erwarten, sich endlich an Kallwitz zu rächen. Seinen Todestag markierte sie mit einem Rotstift auf ihrem riesigen Wandkalender und durchlebte an der Konsole unzählige Male den Moment, der Kallwitz’ Ende bedeuten sollte. Mental fühlte sie sich stärker. Sie wollte ihn am besten sofort richtig erwischen, notfalls aber auch vor- und zurücksetzen. Im schlimmsten Fall seinen Körper mehrmals überrollen. Weiter sah ihr Plan vor, anschließend den Wagen im Gewerbegebiet Abschnede abzustellen, und natürlich hatte sie vor, das Fahrzeug von sämtlichen Fingerabdrücken zu reinigen. Danach wollte sie mit dem Fahrrad nach Hause radeln. Zu diesem Zweck hatte sie längst ein Bike bereitgestellt.
Kallwitz’ Tod sollte wie ein Autounfall mit Fahrerflucht aussehen. Deshalb hoffte Anna, dass sie ihn nicht mehrmals überfahren musste, denn dann gliche die Spurenlage keinesfalls einem gewöhnlichen Zusammenstoß. Trotzdem durfte sie keine Skrupel haben. Wenn sie Kallwitz nicht gleich richtig erwischte, würde sie die Sache zu Ende bringen müssen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.
In ihrer Phantasie durchlebte Anna jede Phase ihres Vorhabens wieder und wieder. Seelenfrieden erwartete sie nicht, erhoffte sich aber Trost von dem Gedanken, dass Friedhofserde den Mörder ihres Sohnes bedecken würde. Anna befand sich in einer fast euphorischen Stimmung und ertappte sich dabei, dass sie meist pfeifend unterwegs war.
Zwei Tage vor dem festgelegten Datum reinigte sie ihr Arbeitszimmer, bis es so steril wirkte, als wäre es niemals mit Arbeit konfrontiert worden. Sämtliche Dokumente, Notizen, Fotos und Aufzeichnungen über Kallwitz packte sie in einen Karton, nahm ihn mit in ihre Firma und jagte das gesamte Material durch den Reißwolf.
An diesem lange erwarteten Morgen entwendete Anna ein Fahrzeug aus dem Bestand ihres Arbeitgebers, durchtrennte aber diesmal die Kette am Tor mit einem Bolzenschneider, damit es nach Diebstahl aussah. Bereits um acht Uhr dreißig parkte sie auf einem Feldweg mit Blick auf die Lüdigworther Straße und schob »Du hast« von Rammstein in den Player. Der aggressive Rhythmus des Songs puschte sie, zudem fühlte sie sich Timm nah, es war eines seiner Lieblingslieder gewesen. Um kurz nach neun Uhr sah sie Kallwitz kommen. Gemächlich fuhr er die Straße entlang.
Anna ließ ihn vorbeifahren, gab ihm einen Vorsprung. Als sie sich anschnallen wollte, klemmte der Gurt. Sie kümmerte sich nicht weiter darum, drücke die Arme durch, drehte die Musik bis zum Anschlag auf, fuhr los und schrie den Text von Rammstein.
»Du, du
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