Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
Tages vor der Tür stehen könnten; und jetzt, nachdem Rosie nicht mehr da war, war diese Vorstellung noch viel verlockender geworden.
Sicher würden sie mit einem Automobil vorfahren, so wie das des Kaufmannes, nur vielleicht noch ein wenig größer und schöner, und seine hübsche, rotblonde Mutter würde zur Tür hereinstürmen und aufgeregt rufen: „Wo ist er, mein Sohn?“
Und dann würde sie in Tränen ausbrechen und die Geschichte erzählen, warum sie ihn verloren hatten. In Finns Vorstellung fiel diese Geschichte jedes Mal ein wenig anders aus, aber immer war es sehr befriedigend für Finn, festzustellen, dass er in Wahrheit gar nicht unerwünscht gewesen war, sondern nur entführt oder verloren gegangen.
Und sein Vater würde ihm freundlich die Hand auf die Schulter legen und so etwas sagen wie: „Ich bin so froh, dass wir dich gefunden haben. Nun lass uns gehen!“
Und sie würden zusammen zum Auto gehen, bewundert und beneidet von den anderen Kindern des Waisenhauses.
Tatsächlich nahm Finn an, dass alle Kinder des Waisenhauses solche oder ähnliche Träume hatten. Sogar der kleine Karl, von dem man doch wusste, dass seine Eltern an einer Krankheit gestorben waren, war sich sicher, dass er irgendwann aus dem Waisenhaus abgeholt würde; vielleicht war ja alles nur eine Verwechselung und es waren gar nicht seine Eltern gewesen, die damals gestorben waren?
Manchmal allerdings, ganz selten, kam es tatsächlich vor, dass Kinder das Waisenhaus verließen. Einige wenige Male hatte Finn selbst miterlebt, dass Leute gekommen waren, Paare, die keine eigenen Kinder haben konnten, und die sich dann im Waisenhaus ein Kind ausgesucht hatten, welches bei ihnen leben sollte.
„Adoptieren“, nannte sich das, und die so ausgesuchten Kinder hatten großes Glück, aber sehr häufig passierte so etwas nicht. Und Finn wusste ziemlich sicher, dass die neuen Eltern lieber kleinere Kinder, und am liebsten kleine Mädchen mit Locken wollten, und nicht etwa neunjährige Buben, die sich die Hosen an Zäunen kaputt machten und gerne Ball spielten.
Einen neunjährigen Jungen konnten wohl nur die eigenen Eltern lieben. Auf Adoptiveltern konnte er also nicht hoffen. Er würde für sein Leben später einmal selber verantwortlich sein, ganz und gar.
Und da war es, wie Finn seufzend feststellte, doch wohl am besten, die Hausaufgaben auch tatsächlich so gut und gründlich wie möglich zu machen. Nicht nur, weil er es Rosie versprochen hatte, sondern auch, weil es nie verkehrt war, viel zu wissen.
Eines Tages, ungefähr zwei Monate, nachdem Rosie nach Hohenstadt gegangen war, um dort zu arbeiten, geschah etwas Ungewöhnliches.
Vor dem Tor des Waisenhauses hielt ein großes Auto, neuer noch als das des Kaufmannes, größer und in einem glänzenden Schwarz. Die Fahrertür des prächtigen Autos öffnete sich und ein vornehmer Mann kletterte heraus, ging um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür, woraufhin eine schöne Dame dem Auto entstieg. Beide sahen sich interessiert um und kamen dann auf das Tor zu.
Finn, der mit dem kleinen Karl, Peter und Hans im Hof Ball gespielt hatte, konnte kaum die Augen von dem schönen Wagen und den fein angezogenen Herrschaften wenden, aber dann fiel ihm ein, dass es Spaß bringen könnte, Fräulein Winter als erstes von den vornehmen Besuchern zu erzählen, und er rannte ins Haus.
Während er noch aufgeregt alles über die Besucher hervorsprudelte, zupfte sich Fräulein Winter nervös die Schürze glatt, setze das Lächeln auf, das sie nur Besuchern zeigte und straffte die Schultern, ehe sie dem Paar entgegen trat. Diese hatten inzwischen den Hof betreten und unterhielten sich mit Peter und Hans, während der kleine Karl die Besucher mit großen Augen und offenem Mund anstarrte.
Als Fräulein Winter durch die Tür trat, richtete sich die Dame jedoch auf, während der Herr höflich seinen Hut abnahm und grüßte. Die Dame tätschelte Karl den Kopf und sagte etwas zu Peter, der daraufhin ein verzücktes Lächeln zeigte.
Dann kamen beide auf Fräulein Winter zu.
Finn merkte sofort, dass seine Taktik, sich an Fräulein Winter zu halten, richtig gewesen war – er konnte sich in der Nähe der Tür herumdrücken und versuchen, unauffällig zu belauschen, was die beiden wollten.
Wie zufällig bückte er sich und tat, als wolle er einige Steine vom Boden aufheben, während er die Ohren spitzte.
Der Mann stellte sich als „Heinz Schmidt“ vor, wobei er sich höflich vor
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