Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
Fräulein Winter verneigte. Dann nahm er die Hand seiner Frau und erklärte, die vornehme Dame sei seine Gattin Lydia.
Finn sah die Frau neugierig an. Lydia, was für ein schöner Name. Und schön war die Frau auch, mit ihren blonden Locken, den langen, dunklen Wimpern und den roten Lippen. Ob sie sich wohl schminkte? Rosie sagte immer, nur lose Frauenzimmer schminkten sich, aber diese Dame sah doch eigentlich sehr anständig aus, und ganz sicher waren die beiden ziemlich reich.
Leider schien Fräulein Winter in diesem Moment wieder einzufallen, dass Finn noch da war. Mit einem strengen Blick zu ihm fragte sie: „Hattest du nicht noch etwas zu tun?“, bevor sie sich wieder den Gästen zuwandte.
Finn hielt es für angebracht, schnell zu gehen – bevor ihr noch wirklich etwas einfiel, das sie ihm zu tun geben könnte.
Am Abend war die Geschichte trotzdem in aller Munde: Das schöne, vornehme Paar wollte ein Kind adoptieren!
Nach einem langen Gespräch mit Fräulein Winter waren die beiden durch das Waisenhaus gegangen, hatten hier und da mit einem Kind gesprochen. Und was das Unglaublichste war: Sie hatten klipp und klar gesagt, dass sie einen Jungen wollten, einen Jungen im Alter von vielleicht acht bis zehn Jahren!
Als das Paar zu ihm gekommen war, hatte Finn das Herz bis zum Hals geschlagen. Was sollte er tun, wie sollte er die beiden davon überzeugen, dass er der Richtige war? Vielleicht mochten sie Peter lieber, mit seinem dunklen Lockenkopf, oder Klaus, der in der Schule wirklich gut war und sich niemals die Hosen zerriss? Und was war, wenn sie eines der kleinen Mädchen sahen und feststellten, dass sie sich geirrt hatten und dass ein Mädchen doch viel niedlicher und netter war?
Als die schöne Dame sich über ihn gebeugt und freundlich nach seinem Namen gefragt hatte, da war ihm vor Schreck das Wort im Hals stecken geblieben. Hans, der neben ihm gestanden hatte, hatte ihn ausgelacht. Tatsächlich war Hans schon zwölf Jahre alt, also älter, als sich das Paar seinen neuen Sohn vorgestellt hatte. Vielleicht war er auch eifersüchtig, aber wenn, dann verbarg er das gut. Hans hatte immer gesagt, er brauche keine Eltern, und falls er insgeheim doch von eigenen Eltern, einem eigenen Zuhause träumte, wie jedes Waisenkind, so versteckte er das sehr gut.
Die Dame schien aber ganz unbekümmert darum, ob Finn nun seinen eigenen Namen wusste oder nicht. Sie fragte interessiert nach, ob er gerne in die Schule ginge, womit er am liebsten spielte und was er später mal für einen Beruf haben wollte, und schließlich wurde Finn etwas lockerer und wagte auch von sich aus, ein paar Sätze zu sagen.
Trotzdem hatte er, als die Dame weiter ging, das Gefühl, die Sache hätte besser laufen können.
Schließlich, nach über einer Stunde, verabschiedete sich das Paar, stieg in sein Auto und fuhr fort, nachdem es noch ein paar Worte mit Fräulein Winter gewechselt hatte.
Viele Augen blickten dem teuren Gefährt sehnsüchtig nach, viele Kinder nahmen den Gedanken an das schöne Paar mit in den Schlaf. Würden die beiden wieder kommen? Würden sie sich für einen von ihnen entscheiden?
Fräulein Winter dagegen war nicht sehr optimistisch gestimmt. Der Mann, Heinz Schmidt, hatte erwähnt, dass man noch dem Waisenhaus in Hohenstadt einen Besuch abstatten würde, und sie dachte beklommen an die dortige Ansammlung von Kindern, alle mit dem brennenden Wunsch im Herzen, ein Paar Eltern zu bekommen. Hätte sie doch wenigstens die Zeit gehabt, die Kinder vorher zu waschen, ihnen schöne Kleider anzuziehen. Peters Hose war vom Spielen dreckig gewesen, das Hemd des kleinen Karl hatte einen Flicken gehabt, und Finn war vor lauter Schreck anscheinend gleich ganz erstarrt.
Sie seufzte. Wie sehr wünschte sie ihren Kindern das Beste, wünschte ihnen eine Familie. Und dieses Paar schien sowohl reich, als auch nett und kinderlieb zu sein. Es war eine Schande, dass sie ihre Kinder nicht besser auf dieses Paar, welches gerne Eltern werden wollte, hatte vorbereiten können.
Sie hatte so eine Ahnung, dass sie die beiden nie wieder sehen würde.
Sie sollte sich irren.
Bereits zwei Tage später fuhr das schöne Auto wieder vor der Pforte des Waisenhauses vor. Das Ehepaar stieg aus und ließ sich ohne Umschweife in das Büro von Fräulein Winter führen, wo man eine lange Unterredung hatte. Finn hatte sich, wie die meisten der älteren Kinder, in der Nähe der Bürotür herumgedrückt, um nur ja nichts zu verpassen; lediglich
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