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Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen

Titel: Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Eilenberger
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neben Gleichaltrigen, die während der Vorlesung zehnfingrig SMS schrieben, um kurz darauf in einem der unzähligen Terminalräume mit einem Freund in den USA zu chatten oder aber per Knopfdruck auf ihren elegant säuselnden Wundermaschinen die ablaufende Parkuhr zu bezahlen. Sogar Erdnüsse konnte man per Handy aus dem Automaten ziehen.
    1995/1996, das war der Winter, in dem NOKIAs Börsenkurs wie eine Rakete in den Himmel schnellte und ein gewisser Linus Torvalds - nach sechzehn Semestern staatlich vollfinanzierten Studiums - in aller Ruhe die Arbeit an seiner Diplomarbeit aufnahm (»Linux as a portable operating system«).
    Finnland im Winter 1995/1996, das war ein Labor der Zukunft, der Startschuss zur digitalen Revolution, der Beginn eines kommenden Menschenalters. Wenn es aber überhaupt ein einzelnes Datum gibt, das sich als Startschuss in die neue Ära benennen lässt, so war es zumindest aus finnischer Sicht der 7. Mai 1995 - jener Tag den bis heute selbst die Zurückhaltendsten unter den Stillen als größte Party aller Zeiten in Erinnerung haben.

HELDEN
    G laubt an euch! Ihr seid gut!« So einfach lautet die Botschaft des neuen Propheten.
    Hundertvierzigtausend Finnen auf dem Senatsplatz in Helsinki sind wie von Sinnen. Angeführt von Curt »Curre« Lindström, einem schwedischen Eishockeytrainer, der in seiner Heimat nur unter dem Spitznamen »Notlösung« bekannt war, jubelt sich das Land in einen nie geahnten Rausch. Curre! Curre! Immer wieder beschwört die Menge ihre Helden. Mit 4:1 hatte das junge finnische Team die stets übermächtigen, stets eleganteren und beneideten Nachbarn aus Schweden besiegt. Und zwar in Stockholm, also in jener Stadt, von der die finnische Provinz über sechs Jahrhunderte regiert worden war.
    Weltmeister im Eishockey! Zum ersten Mal in der Geschichte. 4:1 gegen Schweden - in Schweden! Sogar die Sonne scheint.
     
    Folgt man führenden finnischen Kulturwissenschaftlern, lag die eigentliche Bedeutung des WM-Gewinns in einer
emotionalen Befreiung. Der Sieg des Eishockeyteams wirkte wie ein Ventil. Er half den Finnen, lang unterdrückte Gefühle erstmals auszuleben, sie auch öffentlich zu zeigen. Vor allem aber war es der erste finnische Sieg in einer Mannschaftssportart überhaupt. Zuvor war man im Weltsport immer nur in Gestalt wunderlicher Einzelgänger erfolgreich gewesen. Curres Spieler aber gewannen als Team und bewahrten dennoch ihren finnischen Stil: starker Zusammenhalt, bescheidene Bestimmtheit.
    Dabei war es weder charismatische Führung noch geniale taktische Innovation, mit der Coach Lindström sein junges Team erstmals zum Erfolg führte. Vielmehr konzentrierte er sich auf die sozialen Kompetenzen seiner Schützlinge. In der Nacht vor dem Finale tat er gar etwas, das in Finnland als schwerste Prüfung im Leben eines Mannes gilt. Er schrieb einen Liebesbrief. Vom Assistenten - Curre selbst sprach kein Wort Finnisch - hastig in die Landessprache übersetzt, überreichte er ihn am Morgen jedem einzelnen Spieler. In diesem Brief gab er seinen Spielern für finnische Verhältnisse revolutionäre Einsichten mit auf den Weg: Es ist nicht falsch zu gewinnen, ihr habt es verdient, entspannt euch.
    Derart unkonventionell überwand Lindström die den Erfolg hemmenden Elemente des finnischen Homogenitätsdruckes und setzte so jenes entscheidende Restpotenzial frei, das zum großen Durchbruch gefehlt hatte. Und als dann sagenhafte 2,3 Millionen Finnen (93% Einschaltquote) das Finale am Bildschirm verfolgten, spiegelten sie sich in einem blitzschnell kombinierenden Kollektiv wider, dessen vorwitziges Sturmtrio Koivu/
Lehtinen/Peltonen 3 die technischen Glanzpunkte setzte. Ja, sich gar außerhalb des Eises höchst charmant zu präsentieren wusste.
    Da stand er, umringt von seinen blauen Himmelsstürmern. Wunderheiler, poppamies , Curt Lindström, der beliebteste Schwede seit Finnengedenken. Und alle, alle sangen sie dasselbe Lied. Die siegessicheren Schweden hatten nämlich, noch kurz vor dem Finale, einen eigenen Championsong aufgenommen. Den glider in hieß das gute Stück. Der Titel besingt die Großtaten des schwedischen Teams, das wieder einmal, wie schon so oft, »im Finale den Sieg davontragen werde«.
    Er sollte für mehrere Monate unangefochten an der Spitze der finnischen Charts stehen und ist bis heute einer der beliebtesten Party-Kracher. Nicht zuletzt hat das Summen seines eingängigen Refrains in nicht wenigen finnischen Beziehungen mit den Jahren den Charakter

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